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Rezension "Zeit und Freizeit - Seneca, Epistulae Morales"

Luca Sattelmayer, Besprechung von: Hengelbrock, Matthias: Zeit und Freizeit: Seneca, Epistulae Morales. Mit zwei Beiträgen von Karl-Wilhelm Weeber. Reihe: Classica. Kompetenzorientierte lateinische Lektüre (Hrsg.: Kuhlmann, P.) Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018, 96 S.

Vorliegendes Schulheft der Reihe „classica“ hat das Textcorpus der Epistulae Morales des Lucius Annaeus Seneca als Grundlage. Matthias Hengelbrock (H.) folgt hierbei modernen didaktischen Konzepten, indem er den Schülerinnen und Schülern gleich zu Beginn (S.7) die Standards und Kompetenzen, die im Laufe der Lektüre erworben werden sollen, verdeutlicht. Diese sind in den drei differenzierten Bereichen Sprache, Text und Kultur (worin auch die stoische Ethik und damit Grundfragen menschlicher Existenz inkludiert sind) fixiert, in denen so die vier Teilbereiche der DAV-Matrix berücksichtigt werden. Dies ist auch für die Lehrkräfte sinnvoll, die so ihre Unterrichtsgestaltung an die Ziele des Lektürehefts im Rahmen der Kompetenzorientierung des bayrischen LehrplanPLUS anpassen können. Eine Ergänzung zum vorliegenden Heft kann Peter Kuhlmanns Bearbeitung der Epistulae Morales mit dem Focus auf die Philosophie der Stoa, ebenfalls in der „classica“-Reihe erschienen, bilden.1

1 Kuhlmann, Peter: Die Philosophie der Stoa: Seneca, Epistulae morales (Reihe: classica. Kompetenzorientierte lateinische Lektüre 10, Hrsg. Kuhlmann, Peter) Göttingen 2016. Eine Rezension hierzu finden Sie hier.


Einleitung

Noch vor der ersten Lektüre leiten Texte zur Stoa in Rom, zu Seneca und den Epistulae Morales im Speziellen sowie Anregungen zum Weiterlesen zur Lektüre ein. Der Abschnitt zu den Epistulae Morales sticht hierbei besonders heraus, da er neben Bemerkungen zum „schreibenden Ich“ und zum philosophischen Lehrbrief auch eine Liste von neun kurz erklärten Merkmalen der senecaischen Briefe bietet, die einen permanenten Begleiter und ein zuverlässiges Nachschlagewerk bei der Lektüre bilden können. Die „Anregungen zum Weiterlesen“ enthalten einen kurzen Auszug aus dem Literaturverzeichnis mit vor allem für die Schule einschlägigen Titeln wie für ein breites Publikum entstandene Übersetzungen.


Aufbau der Ausgabe, Layout und Textauswahl

Die insgesamt 21 Originaltexte von variierender Länge (zwischen 114 und 178 Wörtern) sind in 13 Sinneinheiten unterteilt. Bei der gelungenen Auswahl der Texte wurde inhaltlich dem Buchtitel „Zeit und Freizeit“ gefolgt, sodass die Schülerinnen und Schüler tiefgehendes Verständnis in einem mehr oder weniger eindeutig abgesteckten Bereich der Philosophie erreichen können. Bei den ausgewählten Texten handelt es sich um die epistulae:

  • 1
  • 49,3-5
  • 70,1-5
  • 7,3-6.8f
  • 8,1-6
  • 68,8-11
  • 22,1-4.9-12
  • 56,1-3.5-9.11
  • 92,3f.6.10f.
  • 123,1f.4
  • 31,2-8
  • 94,13.17
  • 113,1.27.31f.


Sehr angenehm ist die Bewertung der einzelnen Texte entsprechend einem ungefähren Schwierigkeitsgrad. Der Buchstabe A bezeichnet einen „Text ohne nennenswerte Probleme“, B „mit durchschnittlichen Herausforderungen“, während „sprachlich und/ oder inhaltlich anspruchsvolle[…] Text[e]“ (S.6) mit C versehen sind. Der hierbei von H. vorgenommenen Einteilung lässt sich ohne Widerspruch folgen. So können „A-Texte“ etwa als Hausaufgabe verwendet werden, wohingegen „C-Texte“ vermutlich der hinführenden Unterstützung durch die Lehrkraft bedürfen. Hervorzuheben ist, dass einige Texte auch mit „A/B“ bzw. „B/C“ markiert sind, der Schwierigkeitsgrad also weiter differenziert wird. Einige wenige Texte sind auch zweisprachig angegeben und laden zu einer hauptsächlich inhaltlich geprägten oder synoptisch-vergleichenden Lektüre ein.


Jeder Text ist mit einem, manchmal sehr knapp ausgefallenen Einführungstext versehen, der allerdings dennoch in den meisten Fällen eine erhebliche inhaltliche Vorentlastung für die teilweise komplexen Themen der epistulae darstellt.


Das Layout folgt dem bewährten Prinzip der „classica“-Reihe: Die insgesamt 21 lateinischen Texte sind jeweils auf der linken Spalte der linken Seite der Doppelseite, die eine thematische Einheit bilden soll, abgedruckt. Dabei wird den Schülerinnen und Schülern im ersten Text durch das Einfügen von Absätzen oder zusätzlichen Abständen bereits im Layout eine gern gesehene Unterstützung bei der Übersetzung gegeben. Genannt sei hier der Satz Maxima pars vitae elabitur male agentibus, magna nihil agentibus, tota vita aliud agentibus (ep. 1), der so angeordnet wurde, dass die parallel gestellten maxima pars (…) magna (…) tota vita sowie male agentibus (…) nihil agentibus (…) aliud agentibus im Text direkt untereinander platziert sind (S.12). Bedauerlicherweise sucht man diese subtile Unterstützung bei allen anderen Texten vergeblich. Dies hätte insbesondere den „C-Texten“ gut getan, die grammatikalisch sowie inhaltlich erleichtert worden wären.


H. gibt in der Fußzeile jedes Textes „Hinweise auf spezielle Grammatikthemen sowie auf morphologisch bemerkenswerte Vokabeln“ (S.6), durch deren Wiederholung vor der Übersetzung eine grammatikalische Vorentlastung ermöglicht wird. Leider ist diese Fußzeile optisch so unauffällig gestaltet, dass sie von Schülerinnen und Schülern leicht übersehen werden kann. Dankenswerterweise finden sich aber einige dieser Repetitionen zur Sprachkompetenz (S) bereits auf der rechten Seite der entsprechenden Einheit (z.B. die relative Verschränkung, S.12f).


Die rechte Spalte der Textseite ist mit einem nummerierten ad-lineam-Kommentar versehen, der so umfangreich ausgefallen ist, dass - auch unter Zuhilfenahme des Lernwortschatzes im hinteren Teil des Büchleins - die Benutzung eines Wörterbuchs nahezu überflüssig wird und so, besonders bei einfacheren Texten, eine „flüssige Lektüre“ (wie von H. auf S.6 gewünscht) möglich wird. Auch die grammatikalischen Hilfestellungen sind umfangreich (z.B. „praenavigamus: gnom. Perf., i. Dt. Ind. Präs.“, S.20). Leider sind einige der Anmerkungen zum Wortschatz möglicherweise verwirrend - so wird für furor angegeben, es heiße „hier: Wahnsinn; Verblendung“ (S.38), für miseria „ hier: Not, unangenehme Situation“ (S.44), obwohl die Schülerinnen und Schüler vermutlich genau diese (oder sehr ähnliche) Bedeutungen gelernt haben. Andere Anmerkungen sind überflüssig gesetzt und verhindern selbstständiges Nachdenken der Lernenden. So ließen sich etwa die Bedeutungen von neglegentia (von neglegere, S.12), leo (S.24), insania (vgl. englisch insane, S.66), ambulatio (von ambulare oder dem Fremdwort ambulant, S.58) oder coquere (vgl. italienisch cucina oder der deutschen Entsprechung kochen, S.20) relativ leicht erschließen und bedürften keinen vorgelegten Übersetzungen. Diese zu umfangreichen Hilfsstellungen können möglicherweise auch als ein Zeichen von Bevormundung und mangelndem Vertrauen in die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler gedeutet werden.


Gut gemeint ist auch, dass H. häufig auftretende Schwierigkeiten im Anhang des Buches unter „Sprachliche Besonderheiten“ (z.B. „oportet, necesse est, licet, nolle und malle oft mit Konjunktiv ohne ut“, S.74), „Grammatikalische Stolpersteine“ (z.B. „Pronomina im Plural neutrum ohne Bezugswort“, S.75) und „Hilfen zur Worterschließung“ (z.B. „Von Nominalstämmen abgeleitete Adjektive zur Bezeichnung einer Zugehörigkeit oder Beschaffenheit: Suffixe -ius, -arius, -alis, -aris“, S.77) aufführt und genau untergliedert. Bei den entsprechenden Schwierigkeiten im Text wird auf diesen Anhang verwiesen, etwa „necesse est: -> SB 2“ (S.26). Da jedoch auf viele Paragraphen des Anhangs nur mit einer einzigen Anmerkung verwiesen wird, stellt sich die Frage, ob die Hilfestellungen nicht im Textteil oder sogar davor besser platziert gewesen wären, wodurch den Schülerinnen und Schülern langes Nachschlagen erspart bliebe. Dennoch sind sie eine willkommene Hilfe.


Die rechte Seite jeder Einheit zeigt meist zwei bis vier Aufgaben größtenteils inhaltlicher Natur. Diese sind dabei leider nicht immer abwechslungsreich gestaltet, sodass sich ein Gefühl der Repetition bei den Schülerinnen und Schülern einstellen könnte. Zudem sind sämtliche Aufgaben nach der Textlektüre anzusiedeln; einige pre-reading-activities wären willkommen. Die Aufgabenbreite reicht hierbei von einer Untersuchung in stilistisch-sprachlicher Hinsicht (S.55) über das Herausarbeiten einer bestimmten Metaphorik (S.39) bis hin zu einer kritischen Beurteilung der handschriftlichen Überlieferung (S.13).


Die übrigen Texte wenden sich jeweils der Sprach- (Sigle S, vgl. oben), Text- (Sigle T) und Kulturkompetenz (Sigle K) zu und sind teilweise mit den Aufgabenstellungen indirekt verknüpft (z.B. ein Text zu den Adiaphora und eine Aufgabe zur Erläuterung des Umgangs mit den Adiaphora, S. 57; 59). Manchmal jedoch hängen sie etwas „in der Luft“ und bieten über eine bloße Lektüre keine Anhaltspunkte zu einer weiteren, tiefergehenden Beschäftigung an. Das Gros lässt sich dabei der Sprach- sowie der Kulturkompetenz zuordnen. Insbesondere ein tiefgehendes Verständnis für die (primär stoische) Philosophie wird mit zahlreichen gelungenen Texten (u.a. ein Auszug aus einem von Manfred Fuhrmann verfassten Aufsatz zu otium und negotium, S.34) erzeugt, die jedoch unter Umständen manche Schülerinnen und Schüler aufgrund einer hohe Informationsdichte überfordern und demotivieren könnten.

Daneben sind längere Kultur-Texte, etwa Auszüge aus modernen Interviews (etwa mit dem Jenaer Soziologieprofessor Hartmut Rosa, S.22f; 40f) oder „Ein fingierter Antwortbrief“ des Schriftstellers Luciano De Crescenzo aus der Sicht des Lucilius auf epistula 1 (S.16) zur Rezeption des Themas „Zeit und Freizeit“ in der Gegenwart, mit einem eigenen Fragekatalog versehen, wodurch die Schülerinnen und Schüler zum Transfer animiert und ihnen die die Menschheitsgeschichte andauernde Fragestellungen vergegenwärtigt werden sollen (z.B. „Erläutern Sie, welchen Rat Seneca zur Lösung [des] (…) Problems [der zunehmenden Beschleunigung des modernen Lebenstempos] geben würde“, S.23). Da einige dieser Texte jedoch in aller Ausführlichkeit abgedruckt werden (teilweise über mehrere Doppelseite wie das Interview mit Hartmut Rosa), besteht möglicherweise die Gefahr, dass bei einer tieferen Behandlung das Kerngeschäft des Lateinunterrichts, das Arbeiten mit Originaltexte, außer Augen gerät. Zwei Originalbeiträge des klassischen Philologen Karl-Wilhelm Weeber zur Freizeitkultur und zum Tagesablauf der Römer ergänzen die Texte Senecas durch eine moderne Sicht auf die Antike, stehen allerdings ganz für sich ohne Aufgaben zur weiteren Beschäftigung, was der an und für sich gewinnbringenden Lektüre aber keinen Abbruch tun sollte.


Sehr bedauernswert ist beim Aufgabenteil, dass bei dieser Bandbreite an Texten die häufig gesetzten und gut ausgewählten Abbildungen stark vernachlässigt werden. Keines der Bilder ist mit einer Aufgabenstellung in die Lektüre eingebunden und lädt zu einer ernsthaften Beschäftigung ein, obwohl etwa die Abbildungen von Virtus und Honos auf einer frühkaiserlichen Münze (S.57) und auf einer Rubens-Skizze (S.59) ideal für einen Bezug zu Senecas Vorstellungen sowie einen Vergleich untereinander geeignet sind. Hier und bei anderen Bildern wie antiken Philosophenbüsten (etwa die Doppelhermen des Seneca und des Sokrates, S. 11) oder Mosaiken (S.25; 29; 33; 43; 49; 51) wurde eine wertvolle Chance verschenkt, da der Umgang mit den rein illustrativen Bildern einzig der Lehrkraft überlassen wird. Spezielle Aufgaben hätten hier eine willkommene Abwechslung zu den hauptsächlich textorientierten und teilweise repetitiven Fragen dargestellt.


Lobenswert hervorzuheben ist der umfangreiche Anhang, der neben den bereits angesprochenen Sprachlichen Besonderheiten, Grammatikalischen Stolpersteinen und Hinweisen zur Worterschließung auch sprachliche-stilistischen Mittel (unterteilt in Fundamentum und Additum, was auch für Schülerinnen und Schüle eine Information zur Auftretenshäufigkeit der jeweiligen Mittel bietet) samt Erklärung und Beispiel sowie einen umfangreichen Lernwortschatz bietet.


Fazit

Der Autor formuliert in der Einleitung, Ziel sei es, „Jugendliche zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Seneca zu befähigen“ (S.6). Damit ist auch klar, was dieses Lektüreheft leisten kann: Während die inhaltliche Komponente der Senecalektüre tiefgreifend und erschöpfend umgesetzt werden kann, bleibt die Auseinandersetzung mit dem lateinischen Originaltext möglicherweise auf der Strecke. Zu gering das Textcorpus, zu umfangreich die Anmerkungen, Hilfestellungen und Zusatztexte, zu knapp ausgefallen die Fragen zum Text selbst. Eine gewisse Verschiebung in der Gewichtung der Aspekte Inhalt-Originaltext hätte ein gelungenes Lektüreheft zu einem hervorragenden gemacht. Daher können Lehrkräfte mit H. inhaltlich tiefgehenden, den lateinischen Text etwas stiefmütterlich behandelnden Büchlein eine ansprechende und interessante Unterrichtseinheit gestalten.