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Rezension zu: "Stone Blind. Der Blick der Medusa"

 

StR i.K. Dr. Michael Stierstorfer, Besprechung von: Natalie Haynes: Stone Blind. Der Blick der Medusa. Aus dem Englischen von Babette Schröder und Wolfgang Thon, München: dtv 2023, 368 S., 978-3-423-28317-5, 24 €.

Wie hat sich Stheno, Medusas unsterbliche Schwester, gefühlt, als Phorkys und Keto ihr und ihrer Schwester Euryale die kleine Medusa zum Großziehen überlassen haben? Wie hat sich eigentlich Athene gefühlt, als Poseidon ihren Tempel entehrte, weil er Medusa sexuell genötigt hatte? Wie hat sich Medusa selbst gefühlt, als sie von Athene als Opfer dieses sexuellen Missbrauchs in deren Tempel bestraft worden ist und in ein schlangenähnliches Wesen verwandelt worden ist?


Auf diese und viele weitere mythologisch-psychologisierende Fragen, wie es in den Köpfen prominenter und weniger bekannter mythischer Figuren aus der Antike aussehen könnte, weiß die Altphilologin Natalie Haynes eine Antwort. Immer wieder taucht sodann ein sprechendes Gorgoneion auf, von dem sich herausstellt, dass es als Haupt der Medusa auf dem Brustpanzer der Athene noch denken und sprechen kann. Wie sollte es in Zeiten von „MeToo“, das mittlerweile auch die Mythenadaptionen für jung Adults und Erwachsene erreicht hat, auch anders sein?


Natürlich lassen Madeline Miller, die das Buch als eine erinnerungswürdige Geschichte goutiert hat – wie auf dem Cover werbewirksam zu lesen ist – und Jennifer Saint sowie Margaret Atwood, deren Niveau jedoch unerreicht bleibt, grüßen.


Das Medusenhaupt tritt also mit Athene in den Dialog, lässt kein gutes Haar an Perseus und fingiert gar Rachefantasien ganz im Stile eines Rape-and-Revenge-Movies. In diesen Duktus fügt sich auch gut, dass das sprechende Gorgoneion sich selbst als wichtige Helferin beim Sieg des Perseus über Ketos bezeichnet, denn schließlich hat der Heros es ja als Waffe der Versteinerung bei dem Wasserungeheuer verwendet, als er Andromeda aus dessen Fängen befreite.


Neben dem Perseus-Medusa-Mythos rückt also auch der Andromeda-Mythos in den Mittelpunkt. Hier wird die weibliche Perspektive dadurch ergänzt, dass die von Kassiopeia, Andromedas Mutter, beleidigten Nymphen Poseidon selbst aufrufen, die hochmütige Königin durch die Opferung der Andromeda zu bestrafen. In dieser Episode wird die Psychologisierung nach dem Vorbild Ovids auf die Spitze getrieben: Der Rezipient erfährt aus Sicht Ketos, dass ihm das Opfer einer einzigen jungen Frau zu wenig ist. An Ovids Metamorphosen ist auch die lockere Reihung der Episoden angelehnt. So eröffnen dem Leser diverse mythologische Haupt- und Nebengestalten ihren jeweiligen Blickwinkel, deren Handlungsstränge oftmals wieder geschickt durch einen mehr oder weniger lockeren Bezug zum Perseus-Mythos im weitesten Sinne ineinander verzahnt werden.

Die Enthauptung der Medusa wird ansprechend auf einen dramatischen Chor nach dem Vorbild der griechischen Tragödie verlegt, um dem Leser womöglich explizite Brutalität zu ersparen. Bisweilen würde der Rezipient den Überblick über alle Dramatis Personae verlieren, gäbe es nicht am Ende des Romans eine Übersicht mit Erläuterungen. Rätselhaft bleibt jedoch, welche Funktion die Passagen über mysteriöse Statuen und Skulpturen erfüllen sollen.


Die Sprache des Romans ist klar, verständlich und eher hypotaktisch gestaltet, da die Protagonistinnen aus ihren unterschiedlichen Perspektiven immer wieder von neuem die Zusammenhänge schildern müssen und dafür viele Nebensätze benötigen. Daher verliert der Sprachduktus manchmal an Geschwindigkeit. Letztere wird eigentlich nur in der Chor-Episode über die getötete Medusa geboten. Insgesamt ist ein sehr lesenswertes Werk entstanden, das sich vor allem an mythenunkundige Leser oder mythenkundige Fans der griechisch-römischen Mythologie richtet. Eingefleischte Kenner können dennoch einige inhaltliche Wendungen vorhersehen, was der Spannung ein wenig Abbruch tut. Da die Episoden dem antik-patriarchalen Denksystem verhaftet bleiben, kann man summa summarum nur von einer Pseudo-Emanzipation sprechen: Den roten Faden des Romans bildet, wie erwähnt, der Perseus-Mythos, nicht der Medusa-Mythos im engeren Sinne. Die Frauenfiguren werden zwar zu sprechenden Hilfskräften der Helden befördert, dies würde jedoch eingefleischten Feministen nicht ausreichen. Dennoch nimmt der Leser die weiblichen Stimmen deutlich wahr, auch wenn sie im Falle des Gorgoneion von einem verstümmelten Torso stammt, der als Symbol für verstümmelte Weiblichkeit bestehen bleibt.


Wer nach diesem weiblichen Perspektivenkonglomerat noch nicht genug hat, kann sich im Rahmen des Nachklapps im Roman von der Leseprobe zu Haynes’ Roman „Die Heldinnen von Troja. A thousand ships“ überzeugen lassen oder auch nicht. Auch wenn Kalliope eigentlich gar keine Lust hat, die Muse von Homer zu sein, der angeblich nur an sich denkt. Amerikanische Creative Writing-Kurse lassen grüßen. Welche Perspektiven wohl die 1000 titelgebenden Schiffe von sich geben würden, wenn sie sprechen könnten? Aber wir wollen die schreibaffine kreative Autorin mal nicht auf dumme Gedanken bringen.

sd

©dtv München