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Rezension zu Beate Bossmanns "Ovid, ars amatoria"

StRef Berkan Sariaydin, Besprechung von: Beate Bossmanns: Ovid, ars amatoria (explica! Binnendifferenzierte Lektüre zum Falten), Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2020, 32 S.

Die Lektüre der Ars amatoria in der Sequenz „Liebe und Leidenschaft“ der 10. Jahrgangsstufe im bayerischen Gymnasium stellt eine Lehrkraft vor mehrere Probleme: Mit der Ars lernen die Jugendlichen einen zusammenhängenden poetischen Text kennen, der deutlich umfangreicher ist als die Epigramme des Martial und die Liebesgedichte Catulls. Es handelt sich auch nicht um eine Literaturgattung, welche den Schülerinnen und Schülern aus dem Deutschunterricht oder den modernen Fremdsprachen geläufig wäre, sondern um eine Spielart des selbst Kennern des aktuellen Literaturbetriebs meist völlig fremden Genus ,Lehrgedicht‘. Ovid hat aber noch dazu kein genuines Lehrgedicht verfasst, sondern eine spielerische Parodie. Um diesem Text also gerecht zu werden, müssen Lehrkräfte im dreistündigen (!) Lateinunterricht der 10. Jahrgangsstufe – auch mit Blick auf die Kompetenzerwartungen des LehrplanPLUS – der literaturgeschichtliche ebenso wie der sozialhistorische Kontext des frühen Prinzipats anhand von Ovids sprachlich anspruchsvoller und herausfordernder Ars herausarbeiten, um den Text zu seinem Recht kommen zu lassen. Wenn das nämlich gelingt, können die Jugendlichen verblüffende Entdeckung machen: Trotz der zeitlichen und literaturgenerischen Fremde wird man nämlich „menschliche Verhaltensweisen und typische Situationen“ (LehrplanPLUS, L10 1.2) wiedererkennen, die den Lernenden aus der eigenen Lebenswelt bekannt sein werden. Eine intensive Auseinandersetzung mit Ovids Ars amatoria lohnt sich also trotz aller Komplexität des Textes. Um diesen Ansprüchen in heterogenen Klassen gerecht werden zu können, hat Bossmanns eine binnendifferenzierte Lektüreausgabe vorgelegt, die einige Hilfen auf dem schweren, aber dennoch vergnüglichen Weg der schulischen Ovid-Lektüre bietet.


Im Vorwort (S. 2) erklärt Bossmanns bereits die Konzeption ihrer Ausgabe: Durch vorerschließende Aufgaben wird die anschließende Übersetzung erleichtert, die selbst konsequent binnendifferenziert konzipiert ist. Zudem sind Interpretationsaufgaben beigegeben, die insbesondere einen pädagogischen Transfer im Sinn eines Quid ad nos? im Blick haben. Bedauerlicherweise sind durch diesen einseitigen Fokus auf die Aktualisierung der Ars amatoria die mindestens ebenso bedeutenden sozial- und geistesgeschichtlichen Dimensionen derart ausgeblendet, dass der vielstimmige und anspielungsreiche lateinische Text auf einen plumpen Liebesratgeber heruntergebrochen wird.

Der Schüler und die Schülerin soll im Lauf der Lektüre daher nur noch die Frage klären, ob „Ovid aus heutiger Sicht eher ein Macho oder ein einfühlsamer Ratgeber für beide Seiten“ (S. 2) ist. Die Aktualisierungen sind Bossmanns zwar hoch anzurechnen, doch handelt es sich bei einer solchen Ars überhaupt noch um einen Text, dessen Lektüre sich im Lateinunterricht der Mittelstufe lohnt?

Auf das Vorwort folgt eine Übersicht zum Umgang mit der klugen und einfach umzusetzenden Falttechnik, um die verschiedenen binnendifferenzierenden Versionen zu lesen (ohne Hilfen, Hilfen im ad lineam-Kommentar, mit zusätzlichen Hilfen). Insgesamt sind sieben Textstellen für die Ausgabe ausgewählt, die mithin ein zu bewältigendes Textcorpus bilden:

1. Die Visitenkarte des Autors: Vorstellung von Dichter und Werk (Ars 1,1–10; 23–24; 29–30; 35–38; S. 5–7).
2. Rollenklärung: Jäger und Beute (Ars 1,41–50; 3,417–426; S. 8–11).
3. Flirten leicht gemacht: Kontakte knüpfen (Ars 1,135–136; 139–146; 149–156; S. 12–15).
4. Gepflegtes Styling ist die halbe Miete: Der erste Eindruck (Ars 1,513–522; 3,129–132; 193–203; S. 16–19).
5. Nobody’s perfect: Umgang mit körperlichen Schwächen (Ars 3,261–263; 271–280; 2,641–642; 657–662; S. 20–23).
6. Gegen den Alltagstrott: Leidenschaft erhalten (3,579–582; 3,591–598; 2, 159–160; 209–214; S. 24–27).
7. Letzte Worte: Der Dichter verabschiedet sich (2,733–744; 3,809–812; S. 28–31).

Exemplarisch sei die Binnenstrukturierung anhand des ersten Kapitels veranschaulicht. Die Kapitel beginnen jeweils alle mit einer deutschen Auftaktseite, die sich vor allem um eine inhaltliche Vorentlastung bemüht zeigt. So wird das Prooemium eingeleitet mit einer optisch und inhaltlich ansprechenden „Visitenkarte des Autors“ (S. 4), die als advance organizer Leben und literarisches Werk Ovids veranschaulicht. In dieser inhaltlichen Vorbereitung des Textes, der meist Illustrationen mit bilddidaktischen Aufgaben beigegeben sind, sind jeweils Fragen enthalten, die Vorerwartungen an die Lektüre abrufen. Auf der folgenden Seite ist der Text mit sehr ausführlichem ad lineam-Kommentar beigegeben. Gerade aufgrund der Tatsache, dass die Schülerinnen und Schüler die Arbeit mit dem Wörterbuch einüben sollten, ließe sich hier sicherlich einiges kürzen, um letztlich auch die Praktikabilität des dann nicht mehr überladenen Kommentars zu erhöhen. Auf der dritten Seite folgen „Aufgaben zum Textverständnis und zur Interpretation“, die aber meist nur sehr oberflächlich, d. h. auf der Ebene des Textverständnisses, bleiben. Zudem sind die Aufgaben nur teilweise operationalisiert und daher oftmals viel zu offen, so dass hier die Ausgabe an Effizienz verliert. Die vierte Seite bietet den Text mit weiteren Hilfestellungen an. Hier sind Subjekte und Prädikate markiert und zurückhaltende, aber sinnvolle deutschsprachige Interlinearversionen beigegeben, welche die Übersetzung merklich erleichtern. Problematisch erscheint mir hier aber der erhebliche Eingriff in den Originaltext bei der Wortstellung. So ist etwa der erste Satz der Ars verkümmert zu: Si quis in hoc populo non novit artem amandi, hoc legat et lecto carmine doctus amet. Zweifelsohne hilft das Schülerinnen und Schülern durch die sperrigen Konstruktionen, aber wie sollen sie denn überhaupt noch für die Textform sensibilisiert werden, wenn Poesie für sie nichts anderes mehr bedeutet als Prosa in kruder Wortstellung? Hier wären andere Optionen sinnvoller gewesen, etwa die Einführung eines Verweissystems mit Pfeilen oder die Verwendung von Fett- und Kursivdruck zur Auflösung von Hyperbata.

ovid

©Vandenhoeck & Ruprecht

Positiv hervorzuheben ist, dass die Ausgabe tatsächlich das Gefühl vermittelt, einen zusammenhängenden Text zu lesen und nicht einzelne inhaltlich inkohärente Versatzstücke. Das gelingt Bossmanns durch Anregungen zum Vergleich zwischen den verschiedenen Texten. Allerdings verpasst sie es, durch deutsche Zwischentexte die Handlung noch weiter zu verknüpfen. Ebenfalls ist die Textauswahl insofern lobenswert, als die mehrfache Adressierung der Ars amatoria adäquate Berücksichtigung findet und der Kontrast zwischen den Texten für die Männer und für die Frauen hervorgehoben wird, der sich arbeitsteilig sinnvoll erarbeiten lässt.
Man wünscht sich aber mehr Aufgaben zur sprachlichen Vorentlastung wie auf S. 16, wo sehr sinnvoll sowohl Wortschatz als auch Konjunktive im Hauptsatz vorentlastet werden. Fraglich ist bisweilen auch die Angemessenheit der Aktualisierung und äußerst bedauerlich die geringe Tiefe der Interpretation. Im Sinn der Werteerziehung scheint es zwar durchaus sinnvoll, angesichts der „Flirts“ im Circus maximus über sexuelle Belästigung nachzudenken, viel wichtiger ist es hier aber doch, die Sprengkraft der ovidischen Verse vor dem Hintergrund des augusteischen Systems in den Blick zu nehmen. Der Begriff der sexuellen Belästigung allein reduziert Ovid nämlich auf ein vormodernes archaisches Liebesverständnis. Dasselbe gilt für Ovids kosmetische Ratschläge, die im Unterricht eben nicht nur mit der Gegenwart verglichen werden sollten; vielmehr ist die inhärente und beißende Kritik am augusteischen Programm aufzugreifen, wenn die Männer nach den Empfehlungen des doctor AMORIS etwa auf dem Marsfeld ihre Körper nicht etwa stählen sollen, um als Elitesoldaten in den Krieg zu ziehen, sondern um Frauen zu beeindrucken. Durch den aus motivationalen Gründen sicherlich nicht ungeeigneten, aber zu unreflektierten Einsatz der Vergleiche mit heutigen Liebesratgebern oder Social Media-Stars wird Bossmanns Ovid mithin selbst zu einem Vorläufer derselben. Die Ars amatoria verliert dadurch aber bedauerlicherweise auch ihren Charakter als literarisches Kunstwerk. Durch den Lebensweltbezug wird Ovid der Moderne also so sehr angenähert, dass er seine antiken Wurzeln vollständig zu verlieren droht. Lohnt sich dann aber in den Augen unserer Schülerinnen und Schüler überhaupt noch die Beschäftigung mit Ovids Stylingtipps statt mit Bibis Beauty Palace? Und braucht es dann überhaupt noch die Originallektüre?