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Rezension "Ovid- Orpheus und Eurydike"

Rezension "Ovid – Orpheus und Eurydike. Ein kompetenzorientiertes Lektüreprojekt mit Binnendifferenzierung"
Berkan Sariaydin, Besprechung von: Katja Schlingmeyer: Ovid – Orpheus und Eurydike. Ein kompetenzorientiertes Lektüreprojekt mit Binnendifferenzierung, Göttingen 2014, 48 S. [+6 Seiten Online-Material].

Katja Schlingmeyer hat 2014 mit „Ovid – Orpheus und Eurydike. Ein kompetenzorientiertes Lektüreprojekt mit Binnendifferenzierung“ eine neue Lektüreausgabe zu einer der im Schulunterricht aufgrund der Rezeptionsgeschichte meist gelesenen Metamorphosen vorgelegt. Die Ausgabe stellt dabei ein didaktisch aufbereitetes Projekt vor, in dem die Lernenden weitgehend selbstständig arbeiten sollen. Auf der Verlagshomepage steht ferner das gesamte Projekt als E-Book zur Verfügung, dem ein kurzes Spiel beigegeben ist.

Der Aufbau des Lektüreprojektes gestaltet sich dabei wie folgt: Zunächst liefert die Autorin einige didaktische sowie methodische Vorbemerkungen (S. 4–6), in denen sie überblickshaft über Lernziele und Kompetenzen informiert, die im Rahmen dieses Projektes erworben werden sollen, und die Konzeption des Projektes näher erläutert. Ferner werden unterrichtliche Voraussetzungen dargestellt. Die Autorin legt das Projekt auf zwei bis drei Wochen Unterricht an – das mag zu optimistisch gerechnet sein, berücksichtigt man, dass zahlreiche handlungs- und produktorientierte Aufgabenstellungen vorliegen, die, sofern sich die Lehrkraft dazu entscheidet, diese bearbeiten zu lassen, inklusive Feedback-Runde viel Zeit in Anspruch nehmen dürften. Die Lernenden werden in adäquater Sprache gesondert zum Lektüreprojekt informiert (S. 8). Die enthaltenen Aufgaben, die mit Siglen abgekürzt sind, werden in Pflicht-, Wahlpflicht-, sowie Vertiefungsaufgaben unterteilt. Sämtliche Übersetzungsaufgaben werden gemäß der Orientierung an die Binnendifferenzierung in der Konzeption in drei Niveaustufen (A, B, C) gestellt. Die Lernenden dürfen sich selbst eine Niveaustufe aussuchen, dabei aber jederzeit wechseln, falls die gewählte Stufe zu leicht respektive zu schwer erscheint. Zusätzlich liegen ein Grundwortschatz, der vor der Lektüre wiederholt werden soll, um wichtige basale Vokabeln vor der Lektüre ins Gedächtnis zu rufen, sowie ein Erweiterungswortschatz vor, der sich aus nach Ansicht der Autorin auch für andere Texte relevanten Vokabeln zusammensetzt, die ebenfalls in der Episode von Orpheus und Eurydike vorkommen (S. 9–11). Der Wortschatz wird dabei jedoch leider in keiner Weise didaktisch aufbereitet, Feldvernetzung oder ein Interlexikon liegen nicht vor, was das Erlernen der Vokabeln erschwert. Der gelernte Wortschatz kann durch das Spiel „Vokabelschiffe versenken“ (S. 13) mit einem Mitschüler oder einer Mitschülerin spielerisch wiederholt werden. Darüber hinaus liegen Grammatikaufgaben vor, in denen zentrale grammatikalische Erscheinungen der Lektürestücke (Adjektive, Deponentien, Partizipien) vorentlastet werden (S. 14–17). Diese grammatische Vorentlastung enthält jedoch wenig Potential, da sie nicht gezielt auf die Texte ausgerichtet ist, sondern summarisch einige wichtige und in der Lektürephase erfahrungsgemäß schnell vergessene Grammatikpensen wiederholt. Zielführender wären jeweils Vorentlastungen vor den Textstücken, in denen für die jeweilige Passage relevante Grammatikinhalte vertieft werden.

Im Laufe des Lektüreprojektes erworbene Kenntnisse sollen von den Schülerinnen und Schülerm in einer Mappe protokolliert werden. Dafür erhalten die Lernenden einen Laufzettel, auf dem notiert werden soll, welche Aufgaben wann und in welcher Sozialform (möglich sind Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit, wobei von den Schülerinnen und Schülern i.d.R. selbst ausgewählt werden kann, wie sie die Aufgaben bearbeiten möchten) bearbeitet wurden sowie Angaben zu Selbstkontrolle und/oder Feedback (mittels der beiliegenden Lösungen zu den Aufgaben) gemacht werden. Durch diesen Laufzettel wird gewährleistet, dass die Lehrperson, aber auch die Lernenden einen Überblick über die bereits erledigten und noch ausstehenden Aufgaben haben. Abgeschlossen werden soll das Lektüreprojekt mit Präsentationen, einem Abschlussspiel, das online zum Download verfügbar ist, und einer Reflexionsphase, in der das Lektüreprojekt evaluiert werden soll.

Das Layout der Ausgabe ist sehr einfach gehalten. Überschriften sind durch Fettdruck o.Ä. hervorgehoben, Übersetzungen sind kursiv gesetzt, Farbdruck ist nicht vorhanden. Ansonsten liegen sporadisch ‚illustrierende‘ Grafiken vor, die jedoch sehr lieblos wirken und eher einem horror vacui der Autorin entgegenzuwirken scheinen. Bilder zur Illustration oder weiterführenden Interpretation fehlen – abgesehen vom Frontcover – gänzlich, werden aber durch die Vertiefungsaufgabe 1 (S. 41) berücksichtigt, bei der die Lernenden im Internet gefundene Gemälde auswerten sollen, wobei eben diese Aufgabe der Konzeption der Ausgabe folgend freilich fakultativ bleibt! Damit verschenkt die Ausgabe in diesem Punkt enormes Potential, da gerade Ovids Metamorphosen über eine so reiche Rezeptionsgeschichte verfügen, die in diesem Projekt gewinnbringend eingefangen werden könnte. Das Layout bleibt aber insgesamt durch ein ruhiges Schriftbild und ausreichende Spatien übersichtlich. Lediglich Aufgaben könnten aus Gründen der Klarheit noch deutlicher hervorgehoben und weitere Grafiken sowie Bilder zur Motivation und Illustration einfügt werden.

Die Lektüre erfolgt in verschiedenen Aufgabenformaten, wobei das Hauptaugenmerk auf der Übersetzung liegt (L 1–3). Darüber hinaus wird eine kurze Aufgabe zum Leseverstehen (dies jedoch lediglich über zwei Verse!), ein Textpuzzle und eine Interpretationsaufgabe gestellt, bei der lediglich die Übersetzung (ohne lateinischen Paralleltext!) gestellt wird. Die Lektüretexte sind mit einem ad-lineam-Kommentar ausgestattet, für den – wenig schülerfreundlich – die angegebenen Vokabeln erstens nicht im Text durch Fettdruck o.Ä. hervorgehoben sind und zweitens aufgrund der Fülle an Vokabelangaben nicht immer direkt neben dem jeweiligen Vers stehen. Somit müssen die Lernenden bei jeder Vokabel, die sie nicht kennen, mühsam in den umfangreichen Textblöcken am Seitenrand suchen. Der Vorteil des ad-lineam-Kommentars wurde hier somit nicht optimal ausgenutzt.

Die unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen kommen dadurch zum Tragen, dass die Lernenden nicht alles übersetzen, sondern nur bestimmte Stellen in einem Lückentext ausfüllen sollen, bei dem je nach Niveaustufe unterschiedlich viele Lücken offen gelassen wurden (L 1), oder unterschiedlich viele Fehler in einer vorgelegten Übersetzung des Textstückes finden sollen (L 2). Eine ‚schulmäßige‘ Übersetzung wird innerhalb der gesamten Sequenz damit allein im Lektürestück 3 verlangt. Als größeres Problem stellt sich die Gestaltung der unterschiedlichen Niveaustufen heraus. Die Autorin versucht der Konzeption der Ausgabe folgend den Lernenden jeweils der Niveaustufe entsprechend Unterstützung zu bieten, nutzt dabei jedoch nicht alle Möglichkeiten aus. Bei den jeweiligen Lektürestücken werden lediglich unterschiedlich viele Wörter im ad-lineam-Kommentar in Übersetzung angegeben und die Aufgaben werden umfangreicher. Hier wären je nach Niveaustufe weitere unterstützende Angaben sowie vorentlastende Aufgaben (z.B. syntaktische Analysen) sinnvoll und gewinnbringend. Beim Textpuzzle drängt sich zusätzlich die Frage auf, inwieweit die Lernenden noch die Literarizität eines Textes wahrnehmen können, wenn jeder Vers zu einem Puzzleteil mutiert. Gänzlich unverständlich bleibt die Aufgabe zum Leseverstehen (S. 33–35), die sich auf lediglich zwei (!) Verse bezieht. Die dazu gestellte Aufgabenstellung, bei der die Lernenden überlegen sollen „was die Eigenschaften des Weges für Orpheus und Eurydike bedeuten“ (S. 33–35), prüft aber keine literacy-Kompetenz. Meines Erachtens bleibt die von der Autorin erwartete Lösung ebenso im Dunkeln wie der Weg aus dem Orcus – zumal unverständlich ist, inwieweit obscurus sonderlich andere Bedeutungen für Orpheus und Eurydike implizieren sollte als das fast schon tautologische caligine densus opaca (Ov. met. 10,54) – die Lösung wiederholt dementsprechend auch den Erwartungshorizont lediglich in anderen Worten.

An jedes Lektürestück anschließend werden Interpretationsaufgaben gestellt. Leider verharren diese, ordnet man sie dem Glücklich’schen Raster zu, in den allermeisten Fällen bei Bereich 1 und damit auf einer eher inhaltlichen und sprachlich-stilistischen Interpretationsebene. Insbesondere die Frage nach dem Quid ad nos? fehlt in vielen Punkten. Hier wäre eine weitere Differenzierung der Fragestellungen sinnvoll gewesen. Durch Einbeziehung verschiedener Rezeptionsdokumente wären hier vielfältige Möglichkeiten gegeben. Zudem bleiben die Fragen oft zu unpräzise. So wird etwa nach den ersten zehn Verse des Textes: „Welche Stimmung wird zu Beginn der Handlung erzeugt?“ (S. 21) – offene Fragestellungen bei Interpretationsaufgaben mögen sinn- und reizvoll sein, aber etwas genauer sollte dann doch gefragt werden. Positiv hervorzuheben sind die handlungs- und produktionsorientierten Aufgabestellungen, die eine Vielzahl innovativer didaktischer Methoden von der szenischen Interpretation (1) über Fotocollagen zu kreativen Schreibprozessen, in denen die Lernenden Berichte und Interviews für die Zeitung „Hades heute“ verfassen sollen, integrieren. Solche Ansätze sind einerseits motivierend, und regen zugleich zu einer vertiefenden Interpretation an.

Einen weiteren Problempunkt stellen dagegen m.E. die teilweise zu betont kinderfreundlichen Aufgabenstellungen dar. Mag es in der Unterstufe noch eine Lernguppe erfreuen, wenn aufgrund des Nebels in der Unterwelt auch der Text nicht mehr ganz sichtbar ist und im Textpuzzle neu zusammengesetzt werden muss (S. 36–38), so fühlen sich die Lernenden der zehnten Jahrgangsstufe u.U. durch solche Aufgabenstellungen nicht ernst genommen. Ebenso fragwürdig und zweifelhaft erscheint die Aufgabenstellung zum Lektürestück 2, in dem eine fehlerhafte Übersetzung angeboten wird, deren Fehler die Lernenden korrigieren müssen: „In der Aufregung um das Schicksal der Eurydike haben sich im übersetzten Teilabschnitt [je nach Niveaustufe, Anm. d. Verf.] 10/20/12 Fehler eingeschlichen. Finde und berichtige sie“ (S. 22–27). Hier sind die Aufgabenstellungen zu bemüht, aber nicht mehr adäquat für die jungen Erwachsenen. Ebenso sind die Grafiken eher für kindliche Lernende geeignet als für eine zehnte Jahrgangsstufe.

Resümee: Mit der besprochenen Ausgabe liegt ein Lektüreprojekt vor, das für offene Unterrichtsformen ausgelegt ist und binnendifferenzierend zu arbeiten versucht. Dieses Konzept stellt einen interessanten Ansatz dar, ist jedoch noch nicht konsequent ausgereift, da die drei unterschiedlichen Niveaustufen noch zu wenig Unterstützung für die individuellen Lernenden bringen. Bei den Interpretationsaufgaben kapriziert die Autorin insbesondere auf textimmanente Aspekte, ein existentieller Transfer wird dabei jedoch zu selten versucht. Im Layout bleibt die Ausgabe sehr schlicht, was zu Gunsten der Motivation noch optimiert werden könnte, und entspricht eventuell den heranwachsenden Lernenden nicht immer.

 

(1) Dabei muss aber die Umsetzbarkeit derartiger Methoden in größeren Lerngruppen dahingestellt bleiben, wenn zu viele Lernende im engen Klassenraum Standbilder darzustellen versuchen.