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Rezension zu "Lernzirkel Lateinische Sagen"

StDin Karin Kemmeter, Besprechung von: Stierstorfer, Michael: Lernzirkel Lateinische Sagen, Klasse 10-13, Cornelsen Verlag: Berlin 2021, 64 S.

ISBN 978-3-589-16774-6


Es muss nicht immer Bernini sein!

Stierstorfer legt mit seinem Lernzirkel zu ausgewählten Metamorphosen Ovids eine Arbeit zur Unterrichtspraxis vor, welche die Kompetenz des Übersetzens konsequent mit der Auswertung der Mythenrezeption in der antikenhaltigen Kinder- und Jugendliteratur verknüpft.

Der Autor reagiert damit zum einen auf die gerade in der zehnten Klasse nachlassende Motivation der Schülerinnen und Schüler, auf das Phänomen der boomenden Kinder- und Jugendliteratur mit mythologischen Inhalten, der sog. „Mythopoesie“, und nicht zuletzt auf die auch in der neueren Fachdidaktik erhobene Forderung nach einer beständigen existentiellen Aktualisierung, sprich dem Brückenschlag in die Lebenswelt der Jugendlichen.

Stierstorfer ist inzwischen ein ausgewiesener Fachmann für die aktuelle Mythopoesie. Zahlreiche Vorträge, Publikationen und Rezensionen zeugen von seiner regen Forschungstätigkeit.

Die Auswahl der Metamorphosen überzeugt. Neben „Klassikern“ wie den Episoden um Orpheus und Eurydike oder Apoll und Daphne wählt der Autor auch in den herkömmlichen Lektüreausgaben selten zu findende Verwandlungssagen zu den Heroen Theseus oder Perseus, deren Wert für den klassischen Bildungskanon jedoch unbestritten ist und die in der Populärkultur der Gegenwart besonders intensiv rezipiert werden.

Station 1: Apollo und Daphne (1,546-552 / 557-559)
Station 2: Orpheus und Eurydike (10,8-24)
Station 3: Phaethon und der Sonnenwagen (2,227-236)
Station 4: Perseus und Medusa (4,772-786)
Station 5: Theseus und der Minotaurus (8,155-161 / 169-176a)
Station 6: Herkules und Cerberus (7,404-420)
Station 7: Abschlussquiz – Metamorphosen in der Kunst
Station 8: Ariadne und Athene (6,129-145) (fakultative Zusatzstation)

Der Lernzirkel ist nach eigenen Worten des Autors bewusst als „variierendes und vertiefendes Additum zur Metamorphosen-Lektüre“ (S. 5) zu verstehen, die zeitliche Terminierung lässt dabei der Lehrkraft viel Spielraum.
Stierstorfer gibt zunächst sowohl Lehrerinnen und Lehrern als auch den Jugendlichen eine ausführliche Einweisung in die Arbeit zum Stationenlernen. Im Folgenden bietet er dann die einzelnen Stationen dar und stellt zuletzt einen umfassenden und schülerfreundlich formulierten Lösungsteil zur Verfügung. Alle Stationen sind so gestaltet, dass die Lernenden keine weitere Anleitung und Unterstützung durch die Lehrkraft benötigen.
Im Rahmen der Stationenblätter stellt zunächst ein Einführungstext den Kontext her. Stierstorfer lässt hier immer wieder geschickt durchblicken, dass es sich bei den Metamorphosen um ein carmen perpetuum handelt, nicht um lose verbundene Einzelepisoden.

Konsequent werden die Texte dann in dreifacher Hinsicht für die Schülerinnen und Schüler vorentlastet: Inhaltliche Vorfragen fokussieren bereits die Kernhandlung, der Wortschatz wird visuell durch liebevoll gefertigtes Bildmaterial eingeübt, für die Jugendlichen problematische Grammatikphänomene werden vorab aufgegriffen. Die textbezogene Wortschatzerweiterung und Grammatikvertiefung ist sehr sinnvoll und lernpsychologisch auf dem neuesten Stand. Methoden der Memorierung werden beständig multimedial eingeübt.

Indem bereits die Vorentlastung Stilmittel kontextbezogen thematisiert und auch Sacherläuterungen gibt, wird ein schöner Bogen zur inhaltlichen Vorentlastung geschlagen. Der Leser geht mit profunden inhaltlichen Kenntnissen an den lateinischen Text heran.

Neben gewohnten operatorengesteuerten Interpretationsaufgaben zu den ausgewählten Passagen, die kleinschrittig den Text erschließen und auswerten und sinnvoll auf die immer mehr in den Fokus gerückte Interpretationsaufgabe der Oberstufe vorbereiten, stellt Stierstorfer eine Reihe von handlungs- und produktionsorientierten Aufgaben. Hier könnte sowohl von der Lehrkraft vorab eine Auswahl vorgenommen werden oder auch eigenständig nach Begabungs- und Interessenlage vom Jugendlichen selbst. An dieser Stelle entstehen im Rahmen des Lernzirkels visuelle, auditive oder auch haptische Produkte, die im Plenum noch einmal in einer Reflexionsphase ihren Einsatz finden können. Lobenswerterweise scheut sich der Autor auch hier nicht, zumindest Lösungsvorschläge und Anregungen im Lösungsteil des Stationenlernens anzubieten.

Ein großes Plus des Lernzirkels besteht nun vor allem in den vielfachen Differenzierungsmöglichkeiten, die der Lernzirkel den Jugendlichen und den Lehrkräften bietet. Stierstorfer kommt hier in hohem Maße der faktisch gegebenen Heterogenität der Lerngruppen im Hinblick auf den sozio-kulturellen Hintergrund, die Kenntnisse und Lernvoraussetzungen und die unterschiedlichen Selbstkompetenzen entgegen.

Die Differenzierung kann in vierfacher Hinsicht erfolgen. Je nach Schwerpunktsetzung bzw. Interessenlage ist es möglich, bei dem vielfältigen Angebot an Fragen, Anregungen und Auswahlmöglichkeiten nach Neigungen und Inhalten zu differenzieren. Sehr überzeugend ist Stierstorfers Ansatz, die Übersetzung in verschiedenen Schwierigkeitsgraden darzubieten. Zwei Stationen (Anfänger) bereiten die deutsche Übersetzung so auf, dass die Schülerinnen und Schüler nur Lücken, die inhaltlich besonders relevante Einheiten enthalten, füllen müssen. Sinnvoll wäre es in meinen Augen aber gewesen, die zu übertragenden Passagen im lateinischen Vers jeweils graphisch zu markieren, da diese für Lernschwächere schwer auszumachen sind und auch der übrige Text in der vorliegenden Variante sehr genau übertragen werden muss, um die fehlenden Junkturen zu finden. Zwei weitere Stationen (Fortgeschrittener) bieten den Jugendlichen poetische Übersetzungen des renommierten Altphilologen Prof. Markus Janka an, die den Schülerinnen und Schülern als Grundlage für die Anfertigung einer eigenen Übersetzung dienen. Zwei Stationen (Experte) schließlich liefern den lateinischen Text in gewohnter Form, allerdings mit gut überlegten Wortangaben und Hinweisen für die Übertragung. Besonders leistungsstarken Lernenden steht als zusätzliche Differenzierungsmöglichkeit auch noch eine Zusatzstation zum Arachne-Mythos zur Verfügung. Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich im Übrigen in den mit verschiedenen Niveaustufen arbeitenden Lektüreausgaben von Ingvelde Scholz und Jürgen Sauter (Phaedrus – Fabeln: Ein kompetenzorientiertes Lektüreprojekt mit Binnendifferenzierung, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 22011) oder in der Reihe „scala“ aus dem C.C. Buchners Verlag zu verschiedenen Autoren.

Differenziert werden kann zudem im Rahmen der gewählten Sozialformen. Auch hier bieten je zwei Stationen eine besondere Eignung jeweils für Einzel-, Partner- bzw. Gruppenarbeit.

Nicht zuletzt rekurriert Stierstorfer auch auf verschiedenste Medien (Bilder, Hörspielausschnitte, Filmszenen) gerade in der Auseinandersetzung mit den Rezeptionsdokumenten, so dass der Text über mehrere Lernkanäle binnendifferenziert zugänglich gemacht werden kann.

An dieser Stelle spielt der Autor seinen großen Trumpf aus: Wunderbar geeignete Stellen aus der antikisierenden Kinder- und Jugendliteratur nehmen in nuce die jeweilige lateinische Textstelle auf, variieren und erweitern sie. Hier liegt sowohl Potenzial zur Lesemotivation per se, aber gerade der freie, spielerisch-ironische Umgang mit der mythischen Vorlage lässt vertieftes Ovid-Verständnis zu, denn hier wie dort wird der Mythos mit Augenzwinkern der eigenen Intention angepasst, modifiziert und frei gestaltet.

Ein Abschlussquiz, das die behandelten Metamorphosen noch einmal visuell aufgreift, rundet den gelungenen Lernzirkel schließlich ab. Die Schülerinnen und Schüler werden angeregt, auch andere Rezeptionsdokumente zu betrachten und mit gebildetem Blick zu deuten. Und hier findet sich schließlich auch die großartige Bernini Statue zu Apoll und Daphne aus der Galleria Borghese in Rom.