Forum Didacticum
print


Navigationspfad


Inhaltsbereich

Rezension "Lukrez - De rerum natura"

Jan König, Besprechung von: Frölich, Roland / Künzel, Giselher: Lukrez, De rerum natura (Reihe: clara. Kurze lateinische Texte 34, Hrsg.: Müller, H.), Göttingen 2013, 32 S.

Das Lektüreheft "Lukrez - De rerum natura" ist erschienen als Band 34 der Reihe clara. Kurze lateinische Texte, herausgegeben von Hubert Müller. Die Lukrez-Textstellen ausgewählt und für den Schulgebrauch aufbereitet haben Roland Fröloch und Giselher Künzel.

Mit 32 Seiten ist hier - dem Reihen-Motto Kurze lateinische Texte folgend - eine sehr reduzierte Auswahl aus dem doch eigentlich umfangreichen Werk Lukrezens vorgenommen worden. Auf eine einseitge Einleitung, die in schülerfreundlichem aber nicht zu kindgerechtem Deutsch knapp in Autor und Werk einführt, folgen 15 fast stets zweiseitige Kapitel, unterteilt in drei Sequenzen:

Seite Kapitelüberschrift Textteil Orginal Sprache
Erkenntnis statt Furcht
4 1. Epikur oder der Sieg über die Götter I 62-79 L
6 2. Abwehr der Volksreligion I 80-101 L/D
8 3. Aufklärung I 136-145 L
10 4. Von nichts kommt nichts, zu nichts wird nichts I 149-168; 215-216 L
Antike und moderne Naturwissenschaft
12 5. Kann es etwas geben, das es nicht gibt? I 329-345 L
14 6. Auch ein Atom hat es schwer II 83-88 L
14 7. Abweichung mit großen Folgen II 216-224 L
16 8. Bei Licht besehen II 125-141 L
18 9. Atome - auch eine Frage des Geschmacks II 398-407 L
20 10. Unendliche Weiten? I 998-1007 L
22 11. Gibt es nur eine Welt? II 1048-1066 L/D
Körper - Seele - Geist
24 12. Ein ganz feiner Stoff III 177-190 L
26 13. Kann der eine ohne die andere III 323-349 L
28 14. Keine Angst! Der Tod ist wirklich tödlich III 830-832; 838-851 L
Das richtige Leben
30 15. Was braucht der Mensch wirklich? II 15-22; 37-39; III 91-91 L

Abgeschlossen wird das Heft von einer Seite „Sprachliche Besonderheiten und Lernwortschatz“ - bei einer Seitengröße von etwas über DinA5 ist hier nicht besonders viel zu erwarten.

Das clara-Layout besticht durch Übersichtlichkeit: ausreichend Spatien, verschiedene Schriftarten und -farben u.ä. unterstützen die einfache Orientierung. Bildimpulse verschiedener Art sind ein weiterer Pluspunkt: Statt der eingangs angekündigten 11 Abbildungen sind es im Band sogar 14; und damit etwa eine pro Textdoppelseite (+ weitere Veranschaulichungen, wie Tabellen, Schemata). Negativ ist hingegen die Gestaltung der adlinearen Vokabelangaben, bei denen weder im Text das entsprechende Wort markiert noch - und das ist nun wirklich schade - Wort und zugehöriger Kommentar auf selber Höhe stehen. Teilweise müssen die Schüler also bei einem unbekannten Wort mehrere Zeilen im Kommentar nach unten/oben springen, um die Übersetzung/Erklärung zu finden (und dann ist nicht einmal sicher, ob das Wort überhaupt im Kommentar vorhanden ist). Damit ist der große Vorteil eines ad-lineam-Kommentares verschenkt; zusätzlich sind die Angaben bei fast allen Texten länger als der lateinische Text selbst: Hier hätte man - selbst bei Beibehaltung aller Angaben - vielleicht mit dem Layout noch eine bessere optische Balance erreichen können, und damit den Eindruck verhindern können, die Schüler bräuchten mehr Angaben, als sie an Können mitbringen.

Das führt direkt zur Frage nach Schwierigkeit der Texte und ihrer Verankerung im Lektüreunterricht. Zweifelsohne wird eine Lukrezausgabe für die Schullektüre immer auf Probleme stoßen; De rerum natura ist kein einfacher Text. Fest vorgesehen ist er im aktuellen bayerischen Lehrplan des G8 an keiner Stelle - ausgewählte Passagen sind jedoch möglich als Ergänzungstext für den Lektüreabschnitt 11.1 "Vitae philosophia dux - philosophische Haltungen". Folgende Gedanken werden dabei als zentral angesehen: die römische Philolosophie mit Blick auf ihre griechischen Vorgänger; die Ethik als wichtig(st)er Aspekt römischer Philosophie; die Frage nach dem Ursprung des Seins; Glück; und letztlich: "Die verschiedenen Denkansätze antiker Philosophie regen die jungen Erwachsenen an, über den Sinn ihres Lebens nachzudenken, und ermutigen sie, eigene Wege der Lebensgestaltung zu suchen und sich von vordergründigen Wertvorstellungen zu lösen."Gerade diese lebenspraktischen Fragestellungen fehlen in dem sehr physikalischen Zugang des Lektürehefts (zu einem zugegeben naturwissenschaftlichen ausgerichteten Original), wie der folgende Abschnitt zeigen wird.

Die Bearbeitern lassen uns an ihren Überlegungen, die zur Auswahl der Textpassagen (s.o.) führten, nicht teilhaben; das Werk von sechs Büchern auf 32 Seiten inklusive Interpretationsaufgaben zu repräsentieren, ist jedenfalls die typische Herkulesaufgabe unserer Zeit, die sich der thematischen Lektüre verschrieben hat. Es stellen sich zwei grundsätzliche Fragen:
1. Warum wurden nur Passagen aus den Büchern I-III ausgewählt? - Diese Frage bleibt m.E. offen.
2. Waren die Eingriffe in die Werkchronologie notwendig?2 Diese Frage wird weniger zentral, wenn man sich vor Augen hält, dass die "Häppchenlektüre", die durch den geringen Umfang des Heftes bedingt ist, sowieso kein Gefühl für den Verlauf des Gesamtwerkes geben kann. Klar ist: Der Versuch, einen Überblick über De rerum natura zu geben, muss aufgrund der extremen Diskrepanz von Werklänge versus Heftumfang notgedrungen scheitern. Nichtsdestotrotz haben die Bearbeiter versucht, einerseits das Konzept der Atomphysik Lukrezens zu skizzieren, andererseits auch andere Facetten des Werkes aufzuzeigen. In der Folge trifft man jedoch auf ein zerstückeltes Kompendium teils sehr kurzer Lektürestellen. Es ist nun wohl Geschmacksfrage (seitens der Lehrkraft), ob zusammen mit den Bearbeitern das Unmögliche versucht, um möglichst erfolgreich zu scheitern - oder der Unmöglichkeit des Unterfangens insofern Rechenschaft trägt, als man Lukrez-Lektüre gänzlich anders aufbereitet: mit zwei bis drei längeren Texten zu zentralen Fragestellungen.

Hier soll aber die vorliegende Lektüreausgabe besprochen werden und diese bereitet die ausgewählten Texte, wie oben erwähnt, in jeweils doppelseitigen Kapiteln auf: zunächst der Ausschnitt aus dem Originaltext, dann eine bis vier Aufgaben dazu. Die gestellten Interpretationsfragen stammen, ordnete man sie nach dem Schema von Glücklich, größtenteils aus Bereich 1 und 2. Sie sollen vor allem helfen, die Texte zu erschließen und im historischen Kontext einzuordnen. Die Frage Quid ad nos? kommt dabei zu kurz; dies liegt wohl an der Grundausrichtung hin zur Atomphsyik, aber auch daran, dass der existentielle Transfer zur Lebenswelt der Schüler zu oft nicht konsequent durchgeführt wird. Ein Beispiel mag dies illustrieren: Kapitel 4 zum "Nichts" lässt mit drei Erschließungsfragen den Text und seine Argumentationsstruktur herausarbeiten. Der abschließende vierte Arbeitsauftrag lautet dann wie folgt: "Eng verknüpft mit dem Grundsatz der Beständigkeit der Dinge ist die Frage nach deren Ursprung. Damit beschäftigt sich aus physikalischer Sicht der nachstehende Text. Welche Übereinstimmungen mit Lukrez können Sie feststellen? Vergleichen Sie ihn mit den Ausführungen des Lukrez." (S. 11) Der knappe populärwissenschaftliche Text mag durchaus geeignet sein, mit Lukrez zu vergleichen - aber der Schüler als sich entwickelnder Mensch wird hier leider nicht wirklich mit einbezogen - der existentielle Transfer scheint nicht zu Ende gedacht.
Die vom bayerischen Lehrplan gestellte Forderung, der Lektüreunterricht in 11.1 solle die Schüler "ermutigen [...], eigene Wege der Lebensgestaltung zu suchen", kann folglich selten erfüllt werden. Auch der motivatorische Gehalt dürfte für Schüler, deren Interesse an der Physik sich in Grenzen hält, dadurch eher gering ausfallen. Mehr Blick auf die Lebenswirklichkeit der Schüler wäre hier, vielleicht aber auch schon bei der Auswahl der Texte, wünschenswert.

Für online beim Verlag registrierte Nutzer gibt es die kostenlose Möglichkeit, Ergänzungsmaterial zum Lektüreheft als PDF herunterzuladen. Es umfasst 8 Seiten und bietet zunächst zwei Kapitel, die anscheinend nicht Eingang fanden in die Druckversion. Dazu kommt jeweils eine Seite mit allgemeinen (und für Lehrkräfte sicher auch in der Zusammestellung nicht neuen) Informationen zur Metrik; mit - nicht weiter ausformulierten - Ideen für Projektarbeit zum Thema; sowie mit weiterführender Literatur.

Fazit: Insgesamt liegt hier ein ordentlich gearbeitetes Lektüreheft vor, das bei der schwierigen Aufgabe der Auswahl der Texte jedoch Fragen offen lässt - auch weil der Blick aufs Hier und Jetzt zwar versucht, oft jedoch nicht konsequent genug auf die Schüler gerichtet wird. Gelobt werden soll hier dagegen ausdrücklich das m.E. gelungene Layout der Reihe (Einschränkung, wie oben erwähnt: der Kommentar) sowie die große Bandbreite der gewählten Vergleichstexte.

_______________________________________________________________________________________

1 Siehe: http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/index.php?StoryID=26534.

2 Generell würde ich solche Eingriffe eher vermeiden. I 136-145 dagegen, wo das schreibende Ich von der großen Herausforderung der Abfassung des Werks spricht, hätte statt als Kapitel 3 zu Beginn des Heftes durchaus Sinn gemacht; zumal vergleichbare Passagen aus dem Proöm zu Buch I, an denen das "Autor-Ich" für die Schüler greifbar wird, nicht in das Textcorpus aufgenommen wurden. Diese Stellen sind jedoch m.E. besonders wichtig, um den Schülern einen sozusagen emotionalen Zugang zum Werk zu eröffnen. Mir scheinen die Eingriffe also nicht durchgehend sinnvoll.