Forum Didacticum
print


Navigationspfad


Inhaltsbereich

Rezension zu: "Vivere est militare. Senecas epistulae morales als binnendifferenziertes Lektüreprojekt"

StD Dr. Hans-Joachim Häger, Besprechung von: Bossmanns, Beate: Vivere est militare. Senecas epistulae morales als binnendifferenziertes Lektüreprojekt, Vandenhoeck & Ruprecht-Verlag: Göttingen 2018, 80 S.
ISBN-Nr.: 978–3–525–71122–4

Bereits die Überschrift des zu besprechenden Lektüreprojektes zu Senecas Epistulae morales deutet auf die programmatische Ausrichtung des Vorhabens hin. Das Leben in seinen vielfältigen Facetten soll unter der gewiss diskutablen Überschrift Vivere est militare (= eine Entlehnung der bekannten senecaischen Sentenz aus epist. 96,5) beleuchtet werden. In diesem Kontext rückt die Verfasserin Beate Bossmanns vier Schwerpunktthemen in den Fokus:

1. Gibt es eine Gebrauchsanweisung für ein glückliches Leben? (S. 7–18)
2. Wie nutzen wir unsere Zeit? (S. 19–39)
3. Welchen Wert hat die Freundschaft? (S. 40–54)
4. Wie können wir Angst und Todesfurcht überwinden? (S. 55–80)

Zielsetzung, Gesamtaufbau, Textauswahl und Aufgabenstellungen:
Es geht in erster Linie um die Herausforderungen, die das Leben an uns Menschen – sowohl an Jung als auch an Alt – stellt. Und vor diesem Hintergrund soll das Lektüreprojekt Lateinschülerinnen und -schülern der Oberstufe (Sekundarstufe II) Orientierung geben, ihre Achtsamkeit fördern und diese dazu anhalten, eigene Perspektiven zu entwickeln, zu erweitern oder gar zu revidieren. Konzise formuliert: Die für den Lateinunterricht ausgerufene Maxime der historischen Kommunikation will der vorliegende Band vorzugsweise auf dem Wege eines existenziellen Transfers einlösen. Dabei geht Bossmanns in allen vier oben skizzierten Unterrichtssequenzen jeweils von zentralen Texten Senecas aus:

Zur 1. Sequenz: Sen. epist. 16 (gekürzt)
Zur 2. Sequenz: Sen. epist. 1
Zur 3. Sequenz: Sen. epist. 3; 6; 9 (jeweils i. A.)
Zur 4. Sequenz: Sen. epist. 24; 26; 54; 58; 107 (jeweils i. A.)

Die angezeigten Textauszüge lassen bereits erkennen, dass es Bossmanns in ihrem Lektüreprojekt primär nicht darum geht, viel Textmasse umzuwälzen, sondern die Textstellen nach Anfertigung einer zielsprachenorientierten Übersetzung ausdeuten zu lassen und – davon ausgehend – einen existenziellen Transfer anzubahnen. Zu diesem Zweck werden z. T. recht kreative Aufgaben gestellt; diese reichen von einer Phantasie- bzw. Wunschreise über die Erstellung eines Lebensratgebers bis hin zum Bestehen eines Freundschaftstests. Doch auch fern dieser kreativen Grundausrichtung lassen sich ansprechende Interpretationsimpulse finden, u. a. Text-Bild-, Text-Film-, Text-Lied-, Text-Text-Vergleiche, wobei die intensive Auseinandersetzung mit Michael Endes Roman „Momo“ zweifellos heraussticht. Alle diese Zugriffsweisen unterstreichen, dass Bossmanns einen erfreulich ganzheitlichen Unterrichtsansatz verfolgt und ihr ernsthaft daran gelegen ist, die vielfältigen Kompetenzen und Interessen der Lateinschülerinnen und -schüler nicht nur anzusprechen, sondern auch auszuschärfen.
Das vorliegende Lektüreprojekt ist in seinen einzelnen Sequenzen erfreulich klar und stringent gegliedert; Bossmanns beginnt stets mit einem motivierenden, mitunter sehr pfiffigen Einstiegsimpuls (1.), woraufhin sie (2.) einige wertvolle didaktisch-methodische Überlegungen entfaltet und anschließend (3.) die Unterrichtsmaterialien prägnant vorstellt, um abschließend (4.) die Sequenz als solche in ihren Grundzügen zu präsentieren. Hierbei wissen die sinnhaft erscheinenden Hinweise zur praktischen Umsetzung im Lateinunterricht zu gefallen; während sogar mögliche Sozialformen mitbedacht werden, besteht jedoch hinsichtlich der optischen Gestaltung der Übersichtsseiten (S. 8; 20; 42; 56) Optimierungspotenzial. Hier wünschten sich die interessierten Leserinnen und Leser eine differenziertere Darstellungsweise, d. h. eine klarere Aufsplitterung in a) Inhalte, b) fachmethodische Aspekte, c) anzuwendende Sozialformen und d) Verweise auf das herangezogene Unterrichtsmaterial.
Ebenso positiv ist der konsequent durchgehaltene sog. rote Faden hervorzuheben; dieser besteht in dem Lebensweltbezug, der sich neben den zur Diskussion Anlass gebenden Materialien auch in den durch gezielte Fragen ausgelösten Diskussionen rund um eine angemessene Lebensführung widerspiegelt. Ob jedoch in den einzelnen Kapiteln durch die von Bossmanns gestellten Aufgaben immer die notwendige inhaltliche Tiefe erreicht werden kann, bleibt dahingestellt. Insbesondere bei den brisanten Themen Selbstmord und Sterbehilfe (S. 73–79) ist dies zumindest in Frage zu stellen. Hier ist dringlich anzuraten, fachübergreifend mit den Kolleginnen und Kollegen der Fächer Religion, Philosophie und Sozialwissenschaften bzw. Politik zusammenzuwirken, um eine echte inhaltliche Tiefe zu garantieren. Denn um eine fundierte Auseinandersetzung mit diesen sehr persönlichen Themen gewährleisten zu können, reichen die dem Lektüreprojekt beigegebenen Materialien gewiss nicht aus. Ebenso sind die Arbeitsaufträge an dieser Stelle nicht immer klug gestellt (vgl. bes. S. 79, Aufgabe 2: „Vertiefen Sie Ihre Diskussion: Sterbehilfe – wann und wie?“). Hier sollte während der Erarbeitung von den jeweiligen Lehrkräften unbedingt nachjustiert werden.
Überhaupt wäre eine grundsätzlich einheitlichere Frage- und Impulstechnik wünschenswert. Denn Bossmanns changiert in ihren Aufgabenstellungen zwischen recht basalen W-Fragen und operatorengestützten Impulsen, denen an manchen Stellen in puncto Operatoren mehr Variabilität gutgetan hätte und die mitunter hätten gestufter (vom Leichten zum Schweren) formuliert sein können – alles unter der Prämisse, unsere Oberstufenschülerinnen und -schüler mit dem nötigen Rüstzeug für die anstehenden Abiturklausuren auszustatten. In diesem Zusammenhang ist es – aus wissenschaftspropädeutischer Perspektive betrachtet – bedauerlich, dass nur selten bei den Analyseaufgaben konkrete lateinische Textbelege eingefordert werden.

Als grundsätzlich gelungen ist die binnendifferenziert angelegte Arbeit am lateinischen Text zu bezeichnen; die Verfasserin bietet den jeweils zu behandelnden lateinischen Text durchgängig auf drei verschiedenen Niveaustufen (vgl. dazu auch S. 5):

Niveau A: Text in der Originalfassung mit nur wenigen Vokabel- und Konstruktionshilfen.
Niveau B: Text in der Originalfassung mit mehreren Vokabel- und Konstruktionshilfen.
Niveau C: Text in einer syntaktisch heruntergebrochenen und in Sinneinheiten zerlegten Version.

Resümee:
Grundsätzlich ist der Leitgedanke des vorliegenden Lektüreprojektes unbedingt lobenswert, das Leben in seinen verschiedenen Facetten – ausgehend von einer (recht überschaubaren) Auswahl an senecaischen Epistulae morales – zu beleuchten. Dies gelingt der Verfasserin aufgrund zahlreicher kreativ gestalteter und den existenziellen Transfer befördernder Interpretationsaufgaben in überzeugender Weise. Schade nur, dass die leitende Sentenz (Vivere est militare) und das dazugehörige, so treffsicher und überaus passend ausgewählte Coverbild am Ende der vier Unterrichtssequenzen nicht mehr aufgegriffen und einer verdienten Würdigung, zumindest aber – gleichsam als Kompetenzsicherungsaufgabe und rahmender Abschluss der Seneca-Lektüre – einer Bewertung seitens der Schülerinnen und Schüler zugeführt werden.
Als Fundgrube für kreative, die verschiedenen Kompetenzen der Lateinschülerinnen bzw. -schüler ansprechende Aufgabenstellungen und Unterrichtsideen ist der vorliegende Band empfehlenswert. Auch die differenzierte Textarbeit überzeugt, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier nur recht wenig lateinischer Text umgewälzt wird. Doch dies der Verfasserin anzukreiden, wäre vermessen. Denn hier handelt es sich nicht um ein klassisches Lektüreheft, sondern um ein gutes, weil klar gegliedertes Lektüreprojekt, das weniger wissenschaftspropädeutisches Arbeiten als vielmehr die Motivationsstiftung im Lateinunterricht im Blick hat. Dies sagt die Verfasserin in ihrem Prolegomenon explizit (vgl. bes. S. 4f.). Ersichtlich wird dies auch aus den spärlichen Literaturangaben (vgl. S. 2), unter denen sich nur wenige fachdidaktische Titel und keinerlei Beiträge, die der lateinischen Fachwissenschaft zuzuordnen wären, befinden. Wer aber fernab eines reinen Lektürekurses wertvolle Tipps und Impulse für eine auf die Lebenswelt unserer Schülerinnen und Schüler zielende interpretatorische Textarbeit benötigt, wird hier zweifellos fündig.