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Buchtipp: Antike Aktuell 2022/2

Buchtipp der Lateindidaktik der LMU München: Antike Aktuell

Viermal im Jahr veröffentlicht der Lateindidaktik Lehrstuhl von Prof. Dr. Markus Janka herausragende Buchtipps zum Thema „Antike Aktuell“ im Rahmen des Projekts „Past for the Present“ in Kooperation mit Dr. Michael Stierstorfer (Gymnasium der Benediktiner Schäftlarn). Der oder die jeweils ausgewählten Titel eignen sich auch besonders für eine pädagogisch-didaktische Vermittlung in Bildungs- und Schulkontexten:

Antike-Aktuell-Buchtipps für das Quartal 2/22:

Janisch, Heinz (Text) und Ana Sender (Illustrationen): Das Goldene Zeitalter. Die Metamorphosen des Ovid, NordSüd: Zürich 2022, 92 Seiten, 23 €, ISBN: 9783-314-10614-9.

Das Goldene Zeitalter

© NordSüd / Sender

Kompendien der antiken Sagen, die auch ein jüngeres Publikum ansprechen, gibt es seit den Sammlungen von Gustav Schwab, Dimiter Inkiow und Rick Riordan zuhauf. Warum also noch ein Werk dieses Genres auf den Markt bringen? Nach Lektüre des druckfrischen Bandes können wir erfreut feststellen, dass die Entscheidung für eine Neufassung ausgewählter Verwandlungsgeschichten als stark und außergewöhnlich kunstvoll bebilderte Adaption mit kürzeren Texten eine gute Entscheidung war.

Von Vorgängerwerken wie Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Gesammelt von Gustav Schwab, neu erzählt von Josef Guggenmos, illustriert von Stefanie Harjes (Ravensburger Buchverlag 2013) unterscheidet sich der Band durch seine ausdrücklich im Titel hervorgehobene Orientierung an den Metamorphosen, dem Verwandlungsepos des augusteischen Dichters Ovid (43 v. Chr. bis 17/18 n. Chr.). Da dieses monumentale Opus fünfzehn Bücher umfasst und ein enzyklopädisches Stück der griechisch-römischen Mythologie darstellt, das sich aus den Einzelstücken der kunstvoll ausgearbeiteten und sorgsam miteinander verwobenen Verwandlungserzählungen und Sagenkreise zusammensetzt, mussten Janisch und Sender im vorgegebenen Rahmen eine Auswahl treffen. Dies ist angesichts der rezeptionshistorischen Eigendynamik, die viele von Ovids unsterblichen Geschichten entfaltet haben, bestens zu rechtfertigen. Selbstverständlich ist der Kenner neugierig, welche Metamorphosen Aufnahme gefunden haben, wie sie aufbereitet, dargeboten und miteinander vernetzt werden. Im Nachwort „Keinem blieb seine Gestalt“ erläutert der österreichische Germanist, Jugendbuchautor und Hörfunkjournalist Heinz Janisch (*1960) knapp seine Auswahl und „Neuerzählung“ von 17 bekannten und weniger bekannten Geschichten „aus dem reichen Schatz der Metamorphosen“ (S. 86f., hier S. 87). Sein Kompendium versteht er demnach als „Tür zur weitverzweigten Welt der Metamorphosen“ (S. 88). So beginnt die Episodenauswahl durchdacht beim Ursprung der Erde und endet bei Fama, der Göttin der Gerüchte, welche Ovids Geschichten bis in die Gegenwart trägt.

Von Anfang an zieht das Bilderbuch den Betrachter durch kunstreiche Darstellung des bekränzten Zeus in Gestalt eines weißen Stieres in seinen Bann. Dieser trägt eine nackte Europa mit bis über das Cover hinaus wallenden Haaren auf seinem Rücken. Als göttliches Symbol findet sich auf dem Backcover ein Blitz, der auf Zeus und seine himmlische Macht hinweist. Die Haare der Europa werden mit dem Schweif des Zeus durch das Umwinden eins: ein eindeutiger Hinweis auf die Liebesaffäre der beiden mythologischen Figuren, aus der die prominenten Könige und späteren Richter der Unterwelt, Minos, Aiakos und Rhadamanthys, hervorgehen. Neben diesem wirklich faszinierenden Cover sind auch das Vor- und Nachsatzpapier bestens durchdacht, auf dem sich zu Beginn das (von Daedalus konstruierte) Labyrinth des Minotaurus ohne Faden der Ariadne und am Ende mit Faden wiederfindet, den die Leserinnen und Leser als Überblick über zentrale Episoden am Ende der Lektüre in jedem Fall bei der Hand haben, um sich im komplexen Labyrinth der Sagen auszukennen. Es wird eine illustre Auswahl an 17 ovidischen Episoden eröffnet, die teilweise in der aktuellen mythoshaltigen KJL große Prominenz genießen (Jupiter und Europa, Narziss und Echo, Arachne, Midas, Ariadne und Theseus, Daedalus und Ikarus, Narziss und Echo, Orpheus und Eurydike), teilweise aber auch bislang nur kursorisch oder marginal aufgegriffen werden (die vier Weltzeitalter, die große Flut, Deucalion und Pyrrha, Daphne und Apollo, Pan und Syrinx, lykische Bauern, Philemon und Baucis, Picus, Fama).

Mythenchronologisch nachvollziehbar und nach dem strukturgebenden Vorbild der Metamorphosen finden sich zunächst die Entstehung der Welt und die vier Zeitalter, sodann die Deucalionische Flut und die Kreation eines neuen Menschengeschlechts durch Deucalion und Pyrrha. Diese (ontogenetischen) Mythen sind durch großformatige Zeichnungen vielfältigster Machart, von phantasievollen Vignetten und von Pflanzenborten ausgeschmückt und durch eine einzigartige Bildsprache unterstützt. So findet sich z.B. auf Seite 23 eine meisterhafte Buntstiftzeichnung, auf der die letzten beiden Menschen in der Erde nach Steinen wühlen, mit deren Hilfe auf S. 25 neue Menschen entstehen, die sich in unterschiedlichen Grautönen schraffiert golemartig emporheben. Ungewöhnlich ist auch die pastellfarben inszenierte Verwandlung von Daphne in einen Baum, deren Nägel dunkelbraune und orangebraune Wurzeln zu schlagen beginnen (S. 27). In einer gekonnten Kohlestiftzeichnung tippt der in sich selbst verliebte Narziss über beide schraffierte Wangen mit dem Finger auf sein fragiles Spiegelbild, während die Nymphe Echo im Hintergrund sich gespensterartig in Schall und Rauch auflöst (S. 39). Damit fügt die Zeichnung emblematisch zwei in Ovids Erzählung strukturell getrennte Teilepisoden zusammen. Die Highlights von künstlerisch ausgesprochen wertvollen unterschiedlichen Zeichnungen ließe sich beliebig fortsetzen. Man nimmt der in Spanien geborenen und ausgebildeten Illustratorin Ana Sender (*1978) jede Gefühlslage ihre empathisch gezeichneten Figuren ab. Die Texte sind im Vergleich zum Originaltext des von Intellekt und Humor sprühenden und dementsprechend anspielungsreichen Autors Ovid bzw. der verbreiteten Übersetzung von Holzberg und selbst im Vergleich mit den Adaptionen von Schwab und Inkiow noch stärker komplexitätsreduziert. So eignet sich dieses bebilderte Prachtbuch mit blauen Seitenrändern gut für eine jüngere Leserschaft ab 10 Jahren. Zum Vorlesen kann der Titel freilich schon ab 6 Jahren Verwendung finden. Der Autor Janisch lässt Elemente, die weniger den bürgerlichen Konventionen zu entsprechen scheinen, aus seinen Metamorphosen weg, was sicherlich der Adaption für ein auch kindliches Publikum geschuldet ist, jedoch auch Gesprächspotenzial verschenkt: So wird die Bi-Sexualität von Narzissus im Zusammenhang mit seiner Verschmähung von männlichen Liebhabern getilgt. Auch entfällt das skandalös wirkende Imstichlassen der hilfsbereiten Ariadne durch den in dieser Hinsicht wenig heroischen Theseus, der doch ohne die Hilfe des Fadens der in ihn verliebten kretischen Prinzessin das Labyrinth niemals wieder verlassen hätte können. Die auf einen Umfang von je ca. vier Seiten verdichteten Episoden eignen sich auch gut als Vorlesegeschichten. Nach einer Würdigung von Ovid als poeta doctus und einem hilfreichen Eigennamenverzeichnis endet das Sagenkompendium mit einem fragil wirkenden Ovid-Portrait mit verschwimmenden Rändern, das den ingeniösen Dichter mit seiner charakteristischen ausgeprägten Nase und als lorbeerbekränzten poeta laureatus ins Bild setzt (S. 89). Der einzige Kritikpunkt wäre, dass die kunstvolle Verschachtelung der Episoden aus den Metamorphosen als Metanarrativ durch immer wieder andere (Unter-)Erzähler ausgeblendet bleibt. Die einzelnen ausgewählten Verwandlungsgeschichten werden wie in einem Grimmschen Märchenbuch lediglich additiv aneinandergereiht. Doch verweist das Labyrinth wohl zumindest als graphisches Symbol auf die verwinkelte Erzählstruktur von Ovids poetischem Kunstwerk.

Summa summarum ist ein beachtliches Gesamtkunstwerk entstanden, das die komplexen, phantastischen und bisweilen befremdlichen Inhalte von Ovids Metamorphosen auf ein ansprechendes Niveau für Heranwachsende herunterbricht. Zudem eröffnen die Illustrationen weitere vielschichtige Deutungsebenen, die den Text weiterführen und oftmals schon weiter fortgeschrittenere Metamorphosen verbildlichen, sodass man sich diese gut vorstellen kann. Diese Sachbuch ist eine Bereicherung für jeden Sagenfan und sollte ein Klassiker der Metamorphosen als Bilderbuch werden. Wir wollen mehr Sagen- oder Märchenbücher vom Dreamteam Janisch und Sender – semper vivent (frei nach Ovid)!

In einem Interview über ihre neue Buchpublikation mit Jacqueline Frei outeten sich beide sogar als Kenner und Fans der Metamorphosen:

„Habt ihr einen persönlichen Bezug zu Ovid oder zur antiken Literatur im Allgemeinen?
Heinz: Ich habe die Texte von Ovid in der Schule im Lateinunterricht kennengelernt. Sie und auch seine Lebensgeschichte haben mich fasziniert und waren mit ein Grund dafür, dass ich in Latein plötzlich mehr aufgepasst habe. Später im Germanistikstudium sind Motive aus den Metamorphosen immer wieder als wichtige Bausteine der Weltliteratur aufgetaucht, die viele Autorinnen und Autoren beeinflusst haben.

Ana: Man kennt sie unweigerlich, es gibt ja so viele Versionen davon. Unsere Literatur inspiriert sich an diesen Klassikern, wir haben sie in der Schule durchgenommen, sie sind ins Kino eingegangen, in die Kinderliteratur … Ich habe einmal mit einem spanischen Modelabel zusammengearbeitet und einen Teil einer Kollektion illustriert, die sich an den Metamorphosen inspirierte.

Heinz: Auch mich hat das Motiv der Verwandlung schon immer beschäftigt, das ja auch in Märchen eine wesentliche Rolle spielt. Alles ist möglich. Das erscheint mir ohnehin ein Lebensthema zu sein – unser Wunsch nach Verwandlung, auch unsere Angst davor, dass plötzlich alles anders sein könnte. Im Grunde genommen leben wir in jedem Augenblick mit Metamorphosen.“ (https://nord-sued.com/2022/07/13/von-der-muse-gekuesst/ ; veröffentlicht am 13.07.22 ; zuletzt abgerufen am 01.09.22)


Prof. Dr. Markus Janka und Dr. Michael Stierstorfer