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Rezension zu zwei neueren Lektüreausgaben zu Ciceros In Verrem

Roman Eisner, Besprechung von: Müller, Hubert: Cicero, Reden gegen Verres (Reihe clara, Kurze lateinische Texte 31, Hrsg. Müller, H.), Vandenhoeck&Rupprecht, Göttingen 2010, 48 S.
und Werrer, Elke: Zeugen der Anklage: Cicero, In Verrem (Reihe sammlung ratio 3, Die Klassiker der lateinischen Schullektüre, Hrsg.: Kipf, S. / Lobe, M.), C.C. Buchner, Bamberg 2010, 48 S.

Im Jahr 2010 erschienen gleich zwei neue Lektüreausgaben zu Ciceros Verrinen. Zwar konnten die Reden gegen Verres als Klassiker des lateinischen Lektüreunterrichts stets ihren Platz in den Lehrplänen der gymnasialen Mittelstufe behaupten, doch sind die Vorstellungen eines guten und zeitgemäßen lateinischen Lektüreunterrichts stetigem Wandel und ständiger Reflexion ausgesetzt. Die folgende Gegenüberstellung des Bandes Cicero, Reden gegen Verres (hg. v. Hubert Müller) mit der Ausgabe Zeugen der Anklage: Cicero, In Verrem (bearb. v. Elke Werrer) wird sich deswegen auch von der Frage nach der stets neu zu leistenden didaktischen und methodischen Aufbereitung der sog. Klassiker des Lektüreunterrichts leiten lassen.

Cicero, Reden gegen Verres (H. Müller)

Zielsetzung, Gesamtaufbau, Textauswahl und -anordnung

Im Vorwort wird auf die Attraktivität der Verrinen für verschiedenste Lerninhalte hingewiesen und das Ziel vorgegeben, die Schüler durch Hilfen und Anregungen mit der Welt der römischen Provinzen und der Redekunst Ciceros vertraut zu machen (S. 3). Trotz dieses Bestrebens wird diese Lektüreausgabe den Anforderungen eines modernen lateinischen Lektüreunterrichts leider nicht gerecht. Die Ausgabe gliedert sich in insgesamt 19 Kapitel mit lateinischen Texten und einen spärlichen Anhang, der lediglich aus einem Eigennamenverzeichnis und einer ausführlichen Liste an Lernvokabeln besteht. Die Texte folgen erst ab Kapitel 5 der textinternen Chronologie der Verrinen, die vorangestellten Kapitel 1-4 sollen als entlastende Einführung in die Themenkomplexe „Sizilien“, „Ciceros Quästur“ und „Ciceros Übernahme der Anklage“ dienen und versammeln Texte aus der 2. Rede gegen Verres und In Caecilium. Merkwürdig erratisch wirkt Kapitel 3 („Cicero entdeckt das Grab des Archimedes“ tusc. 5,64-66), da dieser Text und die beigefügten Informationen über Ciceros Verhältnis zur Philosophie in keinerlei Zusammenhang mit den übrigen Kapiteln und den Verrinen im Allgemeinen gesetzt werden können. Um der inneren Kohärenz willen müsste dieses Kapitel gestrichen werden. Die Textauswahl thematisiert den Beginn der Rede (Kap. 5-7), Verres’ unmenschliche Taten in den verschiedenen Teilen des römischen Reiches (Kap. 8-11) und seinen groß angelegten Kunstraub (Kap. 13-16). Die Kapitel 17-19 weisen je unterschiedliche Themen auf (u.a. Verres’ Leben als Provinzverwalter und die Geschichte des Gavius Consanus). Dass nach den langen ein- und hinführenden Kapiteln erst mit Kapitel 8 die Verbrechen des Verres in den Vordergrund rücken („Verres in Achaia“), erfordert einen langen Atem der Schülerinnen und Schüler und könnte ihrer Motivation abträglich sein. Einzelne Kapitel weisen also durchaus einen Zusammenhang auf, ein durchgehender roter Faden und eine didaktisch sinnvoll erscheinende Anordnung der Texte fehlen aber.

Aufbau und Konzeption der einzelnen Kapitel

Die einzelnen Kapitel nehmen jeweils eine Doppelseite ein. Das gewählte Layout und die verschiedenen Schriftgrößen und -farben lassen die Lektionen übersichtlich und klar erscheinen. Die farblich abgesetzten Überschriften bieten keinen motivierenden Reiz für die Lernenden (z.B. „Verres auf Delos“, „Der Ceres-Tempel in Henna“). Bei nur 5 von 19 Kapiteln finden sich deutsche Texte zur inhaltlichen Vorentlastung, die noch dazu für Jugendliche teils unverständlich sein dürften: So wird in einem Einführungstext von „den politischen Wirren“ nach dem Spartacus-Aufstand gesprochen, ohne dass dies näher erläutert würde (S. 10). Der lateinische Text hingegen ist sehr übersichtlich präsentiert, wobei die Übersetzung längerer Satzperioden sogar durch die Einrückung nach Sinneinheiten erleichtert wird. Der ad-lineam-Kommentar rechts neben dem Text bietet v.a. Vokabelangaben, syntaktische Hinweise fehlen aber fast vollständig. Wörter, die aus dem Lehrwerk Intra stammen, sind nicht im Kommentar angegeben, Wörter aus dem Grund- und Aufbauwortschatz Klett sind hingegen rot markiert und am Ende des Bandes als Lernvokabeln alphabetisch aufgelistet. Die Lektüre- und Vokabelarbeit mit diesem Band erschwert sich für den bayerischen Gymnasialunterricht dadurch enorm, da das Lehrwerk Intra in Bayern nicht zugelassen ist und der Grund-und Aufbauwortschatz Klett meist mit den gebräuchlicheren adeo-Norm-Wortkunden in Konkurrenz steht. Auf den lateinischen Text folgt ein Aufgabenteil, der aus zwei bis vier durchgehend textbezogenen Fragen besteht. Die Aufgaben enthalten zwar meist mit W-Fragen verlässliche Aufgaben zum Textverständnis, zur Gestaltung der Rede und zum rhetorischen Stil, und eröffnen immer wieder die Möglichkeit feldbezogener Wortschatzarbeit. Die in der Lektürephase so wichtige Wiederholung grundlegender grammatikalischer Phänomene fehlt jedoch. Ebenso halten die Aufgaben keinerlei methodischen und didaktischen Anreiz für einen Wechsel der Unterrichtsformen und für eine kreative Auseinandersetzung mit dem Inhalt bereit (einzige Ausnahmen sind simple Anweisungen zur Recherche auf S. 5 und S. 39). Das Potenzial zum existenziellen Transfer, das die Verrinen mit den überzeitlichen Fragen nach „Macht und Machtmissbrauch“, „Politik und Rhetorik“, „Rede und Kommunikation“ bündeln, wird im Aufgabenteil dieser Lektüreausgabe vollständig ignoriert. Auf den Aufgabenteil folgt (zumindest in 8 von 19 Kapiteln) ein Informationstext. Diese eher allgemein gehaltenen Texte bieten erklärende Infos zu übergeordneten Themen wie „Sizilien“, „Provinzverwaltung“ und „Asia minor“. Erklärungen und Einführungen zur rhetorischen Theorie der Antike oder Übersichten zu Stilmitteln, die eine Schulung der entsprechenden vom Lehrplan geforderten Kompetenzen ermöglichen würden, fehlen gänzlich. Mit nur sieben Abbildungen ist diese Lektüreausgabe spärlich bebildert und visualisiert (erst Kap. 8 enthält die erste Abbildung!). Es finden sich keinerlei Rezeptionsdokumente, die meisten Bilder stellen lediglich Ruinen von Tempeln oder sizilianische Landschaften dar. Die in sämtlichen In Verrem-Ausgaben fast schon traditionelle geographische Karte, die es den Schülern ermöglichen würde, Verres’ Raubzüge auch visuell nachzuverfolgen, sucht man vergeblich. Die Abbildungen sind zwar durchwegs beschriftet, bieten aber nur selten gehaltvolle Informationen und keinerlei Anreize, die sich in bilddidaktischer Hinsicht für den Unterricht fruchtbar machen ließen.

Zeugen der Anklage: Cicero, In Verrem (E. Werrer)

Zielsetzung, Gesamtaufbau, Textauswahl- und anordnung

Die Schülerinnen und Schüler als Geschworene mit in den Prozess gegen Verres einzubinden, gleichzeitig qualitätvolle Textarbeit leisten und die Methodenkompetenz schulen: So lautet der selbst formulierte innovative Ansatz dieser Lektüreausgabe (http://www.ccbuchner.de/titel-13863_268_268/zeugen_der_anklage_7703.html). In diesem Sinne enthält das Vorwort nicht wie üblich Zielsetzungen und didaktisch-methodische Erklärungen zum Aufbau und Konzept der Ausgabe, sondern einen direkt an die Lernenden adressierten Text, geschrieben in der Ich-Perspektive aus der Sicht eines Opfers von Verres. Durch die fehlenden Angaben bzgl. Aufbau und Konzept könnte man der Ausgabe zwar mangelnde Transparenz vorwerfen, jedoch sind die Siglen und das Konzept selbsterklärend. Und der originell gestaltete Hinführungstext leistet sicherlich eine solide Motivation der Schüler, indem er sie auf affektiv-emotionaler Ebene anspricht („Lest mit mir seine Anklageschrift, und ihr werdet mich danach verstehen, hoffe ich. Und erzählt es weiter, damit Verres in aeternum zu den Verdammten der Unterwelt gehören und nie Ruhe finden wird. Lest selbst, ihr Zeugen der Anklage!“, S. 4). Die Ausgabe enthält 14 Kapitel mit Texten aus den Verrinen und einen für den Unterricht sehr ergiebigen Anhang, der neben einem Lernwortschatz und einem Eigennamenverzeichnis auch Informationen zu Ciceros Leben, eine knappe Darstellung der antiken Rhetorik, eine brauchbare Einführung in die gängigsten Stilmittel, grundsätzliche Hinweise zum Umgang mit literarische Figuren und eine bunte Karte des antiken Siziliens enthält. Die 14 Kapitel folgen konsequent der Chronologie der Reden. Der Übergang zwischen den einzelnen Texten und Anklagepunkten, die im Gegensatz zu Müllers Verrinen-Ausgabe alle ohne Ausnahme Verres’ Schandtaten thematisieren, ist erleichtert durch jeweils vorangestellte deutsche Einführungstexte.

Aufbau und Konzeption der einzelnen Kapitel

Die einzelnen Kapitel, die ein bis vier Seiten umfassen, sind mit groß gedruckten Überschriften versehen, die nur teils einen motivierenden Reiz enthalten („Seht euch diesen habgierigen Schurken an“ Kap. 2, „Ein Skandal“ Kap. 5), jedoch ist jedes einzelne Kapitel mit sorgfältigen und altersgemäßen deutschen Hinführungstexten vorentlastet. Ein schmaler, blau eingefärbter Kasten darunter enthält jeweils vier bis acht Vokabeln zur Wiederholung (Sigle „W“) und Hinweise zur Wiederholung wichtiger grammatikalischer Phänomene (Sigle „G“), so dass auch die Wortschatz- und Grammatikarbeit während der Lektüre gewährleistet ist. Der darauffolgende lateinische Text ist – anders als in Müllers Ausgabe – nicht nach syntaktischen Gesichtspunkten kolometrisch eingerückt, sondern im Blocksatz gedruckt. Der sich rechts befindende ad-lineam-Kommentar hingegen bietet neben Vokabelangaben Hilfen vielfältiger Art, die den Übersetzungsvorgang erheblich unterstützen: Unbekannte Wörter sind auf bekannte zurückgeführt, schwierige Phrasen und Kollokationen geklärt und Hinweise zum syntaktischen Aufbau des Satzes gegeben. Der Wortschatz ist allerdings nicht weiter unterteilt in Basis- und Aufbauwortschatz, alle Angaben im Kommentar folgen demselben Druckbild. Es wird lediglich angedeutet, dass sich die Einteilung der Vokabeln nach dem Bamberger Wortschatz richtet, die Arbeit mit der adeo-Norm-Wortkunde wird im sehr gering ausfallenden Lernwortschatz nahegelegt (S. 38). Hier wären mehr Differenzierung und Transparenz in der Einteilung und Gestaltung des Wortschatzes wünschenswert gewesen. Darunter folgt ein zwei bis sieben Aufgaben umfassender, erfreulich breit gestreuter Fragenteil, der verschiedene methodische Anreize bietet und immer wieder Frage nach Bezügen zur gegenwärtigen Lebenswelt stellt („Ziehen Sie zum Vergleich heutige Diktaturen heran.“ S. 31). Zweifelsohne hat diese Ausgabe im Aufgabenteil ihre größte Stärke: Fragen zur Grammatik, zum Einsatz und zur Wirkung von Stilmitteln, zum Textinhalt und -aufbau sind im Sinne des Kompetenzaufbaus in Anlehnung an schriftliche Prüfungsaufgaben mit präzisen Operatoren als Arbeitsaufträge formuliert („Begründen Sie…“, „Untersuchen Sie…“, „Diskutieren Sie, welchen Schutz unser Rechtssystem seinen Bürgern bietet.“ S.24). Am Ende stehen häufig kreative Aufträge, die zur Perspektivübernahme und damit zur tiefergehenden Auseinandersetzung aufrufen („Befragen Sie Zeugen dieses Redeteils in einem Interview und erstellen Sie eine Reportage über die Kreuzigung selbst.“ S. 35). Obwohl die Verrinen dazu geeignet sind, die Schüler selbst die Macht einer guten Rede und die Wirkung von Stilmitteln in kleinen Übungen ausprobieren und nachvollziehen zu lassen, bietet leider keine der beiden hier vorgestellten Ausgaben Anreize zu handlungsorientierten Methoden (Ausnahme: „Versuchen Sie, den Text im Sinne des Redners vorzulesen.“ Werrer, S.35). Inspirationen dieser Art bieten z. B. die Unterrichtsprojekte von G. Laser (in: AU48, 2+3 2005, S. 59-69). Häufig eingebunden in den Aufgabenteil und eng bezogen auf die Textarbeit ist die reiche und bunte Bebilderung in Zeugen der Anklage, die über 30 Abbildungen von Gemälden, Statuen, Vasen, Ruinen etc. aufweist („Suchen Sie in der abgebildeten Szene einer pompejanischen Wandmalerei (…) Übereinstimmungen mit dem (…) Text.“ S. 15). In rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht ist noch auf die Einbezug von Robert Harris’ Cicero-Roman Imperium hinzuweisen: Passagen daraus dienen an mehreren Stellen der Vorentlastung und Verknüpfung einzelner Kapitel und bieten den Lernenden in den Lektionen eine lebendige Atmosphäre rund um den Verres-Prozess. Eine tiefergehende Verknüpfung mit den Textauszügen oder eine Auseinandersetzung mit dem Konzept und den Darstellungstechniken dieses modernen Historienromans sind jedoch leider nicht vorgesehen. Die Infotexte am Ende der Kapitel enthalten in altersgemäßen Worten entweder Erklärungen zu Sprichwörtern, mythischen Figuren und verschiedensten Realia oder behandeln in enger Anlehnung an den jeweiligen Text wichtige abstrakte Gesichtspunkte des antiken Denkens und bieten somit häufig gute Anknüpfungspunkte für weitere Diskussionen („Folter und Menschenwürde“ S.25, „damnatio memoriae“ S.19).

Resümee

Ihren Platz im bayerischen Gymnasiallehrplan finden die Verrinen in der 10. Klasse, in der Sequenz „Rede und Brief – Kommunikation in der Antike“. Nimmt man die Vorgaben des Lehrplans für diese Lektüresequenz zum Maßstab (http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/index.php?StoryID=26212), wird schnell klar, dass die Ausgabe Cicero, Reden gegen Verres der clara-Reihe diesen Anforderungen nur schwer wird genügen können. Der zu kurze Aufgabenteil bietet nicht genügend Raum für tiefergehende Fragen bzgl. der Verrinen (z. B. Möglichkeiten und Grenzen der Rhetorik, Aufbau des antiken Gerichtswesens, Frage nach der Gerechtigkeit in politischen Systemen) und ermöglicht weder Anknüpfungspunkte für Vergleiche mit der Gegenwart noch methodische Anreize für offenere Unterrichtsformen. Hätte man die bereits erwähnten Kapitel gerade am Anfang der Ausgabe gekürzt, wäre mehr Platz für zusätzliche Aufgaben, für mehr Bebilderung und zusätzliche Arbeitsmaterialien z.B. zur römischen Rhetorik frei geworden. So jedoch genügt diese Ausgabe weder dem Lehrplan noch den Anforderungen eines modernen Lektüreunterrichts. Die Arbeit mit dieser Ausgabe würde für die Lehrkraft viel Zusatzarbeit bedeuten. Für denselben Preis (ca. 10€) und dieselbe Seitenanzahl (48 S.) ist eindeutig die Ausgabe Zeugen der Anklage: Cicero, In Verrem der sammlung ratio vorzuziehen. Die Auswahl und Anordnung der Texte erscheint sinnvoller, die Textarbeit ist durch den besseren Kommentar, die Hinweise zur Wiederholung von Grammatik und Wortschatz und die vorangestellten deutschen Entlastungstexte besser unterstützt. Der didaktisch und methodisch gesehen hervorragende Aufgabenteil und die sinnvoll eingegliederten Bebilderungen und Infotexte ermöglichen einen anspruchsvollen und abwechslungsreichen Lektüreunterricht. Zusätzlich bieten die Materialien im Anhang gelungenes Arbeitsmaterial für die tiefere Beschäftigung mit der Theorie der Rhetorik und gute Hinweise für das Vorgehen bei der Interpretation im Allgemeinen.